Von Fischbrötchen und Obdachlosigkeit

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Hamburg, im Oktober 2013

„Och Luki", sagte ich sanft zu dem Häufchen Elend, das ich hinter der nicht abgeschlossenen Tür der Toilettenkabine vorfand. Er kniete auf dem versifften Boden, klammerte sich an der noch versiffteren Kloschüssel fest und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
„Der Letzte war zu viel", jammerte er und schnappte gequält nach Luft. Ich zögerte kurz und ging dann hinter ihm in die Hocke. „Lass mal dieses verdreckte Klo los", sagte ich, nahm seine Hände in meine und stütze ihn stattdessen. Er lehnte sich etwas an mich und ich musste mir echt Mühe geben, uns beide aufrecht zu halten, damit wir nicht auf den Boden fielen.
„Oh Fuck", stöhnte er und ließ sich gleich wieder nach vorne fallen, um weiter zu kotzen. „Ja, ich weiß, du hast es mir gesagt", jammerte er.
„Kotz dich aus, dann bring ich dich ins Hotel zurück", sagte ich und streichelte einmal kurz seinen verschwitzen Kopf.

Es dauerte noch geschlagene vierzig Minuten, bis endlich nichts mehr aus Lukas heraus kam. Ich stützte meinen erschöpften Freund und bahnte mir mit ihm den Weg von den Toiletten durch den noch immer brechend vollen Club. Unterwegs kamen wir nochmal an dem Typen vorbei, den Lukas vorhin mit seinem Hut geärgert hatte. Er sah sich Lukas, dessen ursprünglich schickes Hemd nun vollgekotzt war, von oben bis unten an und grinste dann hämisch. Außerdem begegneten wir noch dem Mädchen, das ich vorhin nicht beglücken konnte, welches mich dann angeekelt ansah. Die Einzigen, die wir nicht sahen, waren natürlich unsere Freunde. Ich zog mit viel Mühe, damit ich Lukas nicht fallen ließ, mein Handy hervor und schrieb in unsere Gruppe, dass Lukas und ich schon mal nach Hause gehen würden.

Als ich ihn endlich aus dem Club geschleppt hatte, setzte ich ihn auf einer Mauer ab und rief uns ein Taxi, da es zu der Sammelstelle viel zu weit war und ich ihn unmöglich bis dort hin bekommen würde.
Ich zündete mir eine Zigarette an und stellte mich etwas abseits von Lukas, damit diesem durch den Zigarettengeruch nicht wieder schlecht werden würde. Er sah so fertig aus, hatte seine Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt sich dabei seinen Kopf mit beiden Händen fest.
Nach ein paar Minuten vibrierte mein Handy und ich stellte erleichtert fest, dass die anderen meine Nachricht gelesen hatten und uns so später nicht suchen würden. Stefan hatte irgend ein Foto in die Gruppe gestellt, welches bei mir wegen meinem schlechten Empfang nicht herunter zu laden war. Bei Lukas offenbar schon.
„Oh Gott, nein, wie eklig", jammerte er und erbrach sich dann unter Krämpfen nochmal auf die Straße.
„Was ist los?", fragte ich ihn erschrocken. Er wischte sich seinen Mund mit seinem Ärmel ab und hielt mir dann sein Handy hin. Stefan hatte ein Bild von Benni geschickt. Die Anderen mussten sich gerade auf dem Hamburger Fischmarkt befinden und Benni war gerade dabei, sich morgens um sechs Uhr ein Backfischbrötchen mit Unmengen an Remoulade rein zu ziehen. Ich konnte Lukas Reaktion da direkt verstehen, denn Benni lief das Fett am Kinn herunter und er hatte die Remoulade bis zur Wange verschmiert.
„Alls klar ham unss sho gefragt, wo ihr seid. Kerber is shon am frühstückn", stand gerade so entzifferbar unter dem Foto.
Wie aus dem Nichts tauchte dann endlich unser Taxi neben uns auf. „Hey, so nehme ich den aber nicht mit", sagte der Taxifahrer entnervt.
„Ich schwöre, er kotzt nicht mehr. Er müsste jetzt eigentlich leer sein", sagte ich und wuchtete Lukas von der Mauer hoch.
„Wenn doch, leckt er es auf", grummelte der Taxifahrer. Bei dieser Androhung sah Lukas mich verzweifelt an und würgte wieder ein bisschen, konnte sich aber zum Glück beherrschen und unterließ es, erneut zu brechen.
Erst in dem kleinen Innenraum des Autos bemerkte ich, wie sehr wir beide stanken. Ich schätzte jedoch mal, dass ein Fahrer, der regelmäßig die Leute hier abholt, schon weitaus Schlimmeres gesehen hat, also hielt sich mein Mitleid doch etwas in Grenzen.
Lukas war direkt nach den ersten Metern eingeschlafen und fiel mit seinem Kopf zur Seite. Da ich für ihn viel zu weit weg war, um auf mir landen zu können, hing sein Körper schlaff zur Mitte hin im Gurt und es sah sehr unbequem und schmerzhaft aus. Darum schnallte ich mich schnell ab, rutschte auf den Mittelsitz und schob den Armen wieder auf seinen Platz zurück. Da er sich natürlich nicht halten konnte, kippte er immer wieder zur Seite, also legte ich irgendwann einen Arm um ihn, um ihn auf seinem Platz zu fixieren.

Ich denke, der Taxifahrer hatte einen für ihn sehr lukrativen Umweg genommen, denn die Rückfahrt hatte ungefähr doppelt so lange gedauert, wie die Hinfahrt vor ein paar Stunden. Da ich aber einfach nur dankbar war, dass wir endlich am Hotel waren, drückte ich ihm das Geld plus zusätzliche zehn Euro als Entschädigung für den bestialischen Geruch in die Hand.
„Wo sind wir denn?", jammerte Lukas, als ich ihn aus dem Taxi gezogen habe.
„Im Hotel, gleich kannst du schlafen."
„Danke, Timi", antwortete er total erschöpft und ließ sich von mir ins Hotel führen.
Oben vor seiner und Stefans Zimmertür angekommen, suchte ich in seiner Hosentasche nach der Schlüsselkarte, die ich aber leider nicht fand.
„Lukas, wo ist deine Schlüsselkarte?", fragte ich verzweifelt.
„Oh, ich hab meine im Zimmer vergessen, aber Stefan hat noch eine."
Na super. „Stefan ist aber nicht hier."
Lukas lachte und ließ sich an der Wand entlang auf den Boden rutschen. Dann fiel er einfach zur Seite und zog seine Knie an die Brust. „Dann bin ich jetzt eben obdachlos und schlaf einfach auf dem Flur, bis Stefan kommt. Gute Nacht, Timi. Stefan wird mich schon finden, ok?"
„Lukas, komm zu mir ins Zimmer solang, Igor ist ja auch noch nicht da."
„Ich bin obdachlos", sagte Lukas, lachte erst ganz leise und bekam dann einen richtigen Lachflash. „Album auf der Eins und schwupps bin ich obdachlos. So schnell geht's manchmal im Leben. Ey da gibt's doch ein Lied über Obdachlose", lallte er und überlegte kurz. „Streets of London von Ralph McTell. Das is schön, komm ich sing dir das mal vor." Lukas setzte sich umständlich wieder auf und hustete kurz, dann legte er sehr laut los.
„Also, Timi.... So hoooow can you tell me that you're loooooonely, and say for you that the sun don't shine? Well let me take you by the hand, and leeeeeead you through the streeeeets of London, show you somethiiiiing to make you change your miiiiiiiiiiind."
„Oh Lukas, sei doch bitte ein bisschen leiser. Gleich werden wir beide rausgeschmissen, dann sind wir wirklich obdachlos!" zischte ich ihm zu.
Lukas sah mich traurig an und ließ sich dann auf die Seite fallen. „Das Lied ist so traurig", sagte er und begann, zu schluchzen. „Warum gibt's so viele Obdachlose, Timi? Sag mir, warum ist die Welt, in der wir leben, so grausam?"
Während ich mich neben ihn auf den Boden sinken ließ, fragte ich mich, ob ich betrunken oder high auch so anstrengend war, wie Lukas gerade. Ich hatte zwar noch nie ernstzunehmende Beschwerden gehört, aber man konnte ja nie wissen.

Irgendwann, als die Anderen immer noch nicht da waren, hatte sich Lukas von seiner unvorhersehbaren Heulattacke erholt. „Lukas, kommst du jetzt bitte mit ins Zimmer? Mir wird kalt hier draußen. Außerdem riechst du nicht so gut. Du musst dich umziehen."
Er seufzte tief und hievte sich dann endlich vom Boden hoch. Erleichtert fummelte ich meine Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche und war zum ersten Mal wirklich froh darüber, dass der verfrorene Igor uns immer so extrem einheizte.
„Lukas, nein!", schrie ich, als er sich, vollgekotzt wie er war, in mein Bett fallen lassen wollte. „Doch nicht so, wie du jetzt aussiehst. Zieh dir wenigstens die Sachen aus!"

Genervt verdrehte ich die Augen, als ich sah, wie Lukas erfolglos an seinen Hemdknöpfen herum fuchtelte. „Ich glaube, du musst das machen, Timi."
Auch das noch.
„Na dann komm mal her." Langsam und vorsichtig öffnete ich sein Hemd, darauf aufpassend, nicht in die getrocknete Kotze zu greifen. Als ich das geschafft hatte, machte ich mich daran, seine Hose zu öffnen. Da ich aufgrund des Geruchs, der sich langsam im Zimmer verbreitete, total angeekelt war, konzentrierte ich mich gar nicht auf den Körper, den ich da vor mir entblößte. Ich warf lediglich einen kurzen Blick auf seine Boxershorts, aber nur um zu checken, ob die auch mit irgendetwas verdreckt war. Erleichtert befand ich sie für in Ordnung und ließ sie ihm an.
„Willst du noch ein Shirt von mir oder schläfst du so?", fragte ich ihn und verpackte seine Klamotten luftdicht in einer Mülltüte.
„Ich schlaf so, es ist so heiß", murmelte Lukas und legte sich in mein Bett. Ich riss die Fenster auf, da ich es anders auf keinen Fall länger hier drin aushalten würde.
Ich rauchte eine Zigarette und warf einen Blick nach unten auf die Straße. Es waren noch ein paar Leute unterwegs, aber weit und breit noch immer keine Spur von unserem Rest.

Als ich Lukas schon leicht schnarchen hörte, warf ich meine Zigarette unten auf die Straße, schloss das Fenster, setzte mich gegenüber auf das Bett von Igor und beobachtete ihn beim Schlafen.
Seine Haare hingen ihm kreuz und quer über sein Gesicht. Er hatte mein Kissen im Arm und kuschelte sich leicht grinsend daran. Er sah schon irgendwie süß aus.
Als ich mich dann erwischte, wie ich immer weiter nach unten schaute, drehte ich mich schnell von ihm weg und ließ mich nach hinten in Igors Bett sinken.
Nach ein paar Minuten sah ich dann nochmal zu Lukas rüber, um sicher zu gehen, dass es ihm gut ging. Er hatte sich noch tiefer in mein Kissen gekuschelt und seufzte leise. „Du riechst so gut, Timi", sagte er leise und schnarchte dann weiter.

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