Gebt mir mal die Zwangsjacke!

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Stuttgart, 22. Oktober 2013

Dieser stechende Blick alleine, den Stefan mir zugeworfen hatte, bevor wir losgefahren waren, hatte mich schon ziemlich beunruhigt. Die Tatsache, dass er jetzt statt Lukas in der Mitte unserer Sitzreihe saß, ließ mich dann auch mit Gewissheit denken, dass hier etwas ganz gehörig nicht stimmte. Auf jeder einzelnen Fahrt der Tour hatte jeder von uns bisher auf dem selben Platz gesessen. Immer. Ausnahmslos.
Warum also jetzt diese plötzliche Änderung? Wie sollte ich mir das nur erklären? Es musste irgendetwas mit dem Gespräch zu tun haben, das die beiden vorm Hotel miteinander geführt hatten. Dem Gespräch, bei dem Lukas Tränen vergossen und Stefan ihn getröstet hatte. Er wird wohl kaum nur etwas im Auge gehabt haben. Es musste einfach was mit mir zu tun haben. Warum sonst würde er nun nicht neben mir sitzen wollen? Wusste Stefan etwa, was zwischen mir und Lukas gewesen ist? Warum brachte Lukas das zum Weinen? Oder interpretierte ich da mal wieder viel zu viel in nichts hinein?

Ich nahm mein Handy in die Hand und starrte es minutenlang einfach nur an. Vielleicht sollte ich Lukas ja mal schreiben und ihn fragen, was los mit ihm war. Aber was, wenn Stefan dann versehentlich mitlesen würde? Falls er doch nichts wusste, würde ich es ihm ja dann verraten. Und dass jemand von dem, was auch immer das mit Lukas war, erfuhr, wollte ich nun wirklich nicht.
Hatte Stefan vielleicht doch etwas mitbekommen, als wir dieses Dreierzimmer hatten? So richtig leise waren wir ja da auch nicht gewesen, auch wenn wir uns ziemlich darum bemüht hatten. Aber bei all den versauten Sachen, die Lukas da gesagt hatte, würden auch schon wenige, zufällig aufgeschnappte Worte reichen, damit Stefan eins und eins zusammenzählen könnte.
Hatte er Lukas darauf angesprochen und diesem war dabei dann erst aufgefallen wie abgedreht, eklig und falsch das alles war, was wir getrieben hatten?

Dieser Blick. Was war das für ein Blick? Stefans Augen hatten mir gesagt, dass er irgendetwas wusste. Aber ich konnte nicht daraus lesen, ob er es widerlich fand, ob es ihn schockierte, ob es ihn überraschte, ob es ihm egal war, ob er es gut fand oder sonst irgendwas. Sein Blick war extrem aussagekräftig gewesen, aber ich wusste einfach nicht, was er ausgesagt hatte.
Warum hatte er nicht einfach seine blöde Sonnenbrille tragen können? Dann hätte ich überhaupt nicht mitbekommen, wie er mich ansah und ich müsste mir jetzt nicht schon wieder so viele Gedanken machen!

Ich beschloss, Lukas nicht zu schreiben und steckte mein Handy wieder ein. Ich traute mich nicht einmal, zu ihm rüber zu sehen, obwohl mich schon sehr interessierte, was er gerade machte. Obwohl mir das höchstwahrscheinlich sowieso nichts gebracht hätte. Wahrscheinlich überspielte er seine Gefühle nach seinem kurzen Ausbruch jetzt wieder und hatte sich eine Maske aufgesetzt. Das konnte er schließlich besser, als jeder andere von uns. Selbst, wenn in ihm drin der größte Sturm tobte, sah man einfach nur eine spiegelglatte, bewegungslose Oberfläche, wenn er das so wollte.
Ganz im Gegensatz zu mir. Wenn ich traurig war, sah man es in meinem Gesicht. Wenn ich mir zu viele Gedanken machte, verriet es mein Blick. Wenn ich nervös war, konnte man es an meiner Körpersprache erkennen.
Genau deshalb sollte ich jetzt vielleicht mal versuchen, an etwas anderes zu denken. Das würde sich schon alles von selbst aufklären. Wahrscheinlich war überhaupt nichts und ich redete mir das mal wieder ein.
Ich könnte doch einfach schlafen! Ein paar Stunden schlafen, in Nürnberg aussteigen, in mein Zimmer gehen und mir die Decke über den Kopf ziehen, bis Lukas einfach ganz normal zu mir kommen würde und alles wäre wie immer. Ob dann was zwischen uns laufen würde, war mir dabei erst einmal egal. Hauptsache, er mied mich nicht oder suchte Abstand, so wie ich das jetzt zu spüren glaubte.

Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe, um ein wenig zu schlafen. Aber der Krach um mich herum durchkreuzte diesen Plan natürlich. Igor und Benni grölten nämlich lautstark bei „Wannabe" von den Spice Girls mit. Benni, weil er fünf Minuten zuvor eine Nase gezogen hatte und Igor, weil er eben Igor war und keinen weiteren Grund für so was brauchte.
Die Fahrt von Stuttgart nach Nürnberg würde ja nur noch ungefähr zwei Stunden lang dauern. Solange würde ich das schon noch aushalten, ohne dass meine Gedanken mich auffraßen.
Ich wagte es jetzt doch mal, kurz zu Lukas rüber zu sehen. Wie erwartet, ließ er sich überhaupt nicht anmerken, falls etwas nicht stimmen sollte. Er sah mit relativ normalem Blick über Stefans Schulter und schaute diesem beim Zocken zu. Ab und zu gähnte er nur mal kurz und fragte, warum Stefan so wild auf dieses Spiel war.

Zehn SekundenWhere stories live. Discover now