Winterwonderland

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Bielefeld, 05. Dezember 2013

Der Sonnenaufgang stand kurz bevor. Dichter Nebel waberte über die Felder, die sich nahezu endlos um mein Haus herum erstreckten. Der erste Schnee des Jahres war gefallen. In dicke Decken eingewickelt standen Lukas und ich auf dem Balkon und ließen den Blick in die Ferne schweifen. Lukas nippte an seinem Tee und seufzte tief.
„Ich will gar nicht weg. Die letzten vier Wochen waren so schön. Und wie du wohnst, das ist einfach der Hammer."
„Ich wäre auch froh, wenn du noch länger bleiben könntest."
Lukas war bereits jetzt schon viel länger geblieben als ursprünglich geplant. Wir schrieben nun schon den zwölften Tag in Folge, an dem er am Morgen aufbrechen wollte und dann doch noch einen Tag drangehängt hatte. Jedoch konnte er seine Termine nicht endlos aufschieben. Trotzdem war ich gespannt, ob er denn heute wirklich fahren würde. Ich grinste, denn dadurch, dass wir in den letzten Tagen jeden Morgen gedacht hatten, dies wäre vorerst unser letzter gemeinsamer Tag, nutzten wir diesen auch ausgiebig und sehr intensiv - in jeder Hinsicht.
Lukas bemerkte mein Grinsen. „Mann, diesmal fahre ich wirklich", sagte er lachend und klopfte mir so stark auf die Schulter, dass mir die Kaffeetasse fast aus der Hand rutschte.
„Das hast du gestern auch schon gesagt. Und an all den Tagen davor."
„Ich kann mich einfach nicht losreißen. Dieser Ausblick alleine am Morgen. In Berlin sehe ich nur Beton, Menschen, Dreck und Hektik wenn ich aus dem Fenster gucke. Ich hab ja nicht mal einen Balkon. Und hier kann ich morgens raus gehen, ich atme frische Luft, ich kann unendlich weit schauen und sehe keinen einzigen anderen Menschen. Nur wunderschöne, frische Natur und ab und zu vielleicht mal ein paar Rehe. Atme tief ein, dann riechst du die Freiheit!"
„Ich weiß, Lukas. Ich hab das jeden Tag."
„Aber ich glaube du weißt das gar nicht mehr zu schätzen. Ich muss dich da jedes Mal dran erinnern, wenn ich hier bin. Du hast dich viel zu sehr daran gewöhnt."
„Also am meisten schätze ich es nach einer Tour. Oder wenn ich bei einem von euch in Berlin zu Besuch war."
Lukas schnaubte. „Ey, das heißt dann, dass du dich auf Zuhause freust, während du bei mir bist?"
„Dreh mir doch nicht die Worte im Mund rum", antwortete ich und verdrehte belustigt die Augen. Jetzt freue ich mich erstmal auf ein langes Bad mit dir. Das wollten wir schon seit Tagen machen und haben es immer noch nicht hingekriegt. Wenn das nun wirklich der letzte Tag ist, sollten wir das auf der Stelle erledigen."
Lukas grinste, lief Richtung Tür und ließ noch auf dem Balkon die Wolldecke fallen, die er um sich herum gewickelt hatte. Er wackelte mit dem nackten Hintern und ging hinein.

Da meine Badewanne um einiges größer war, als die Badewanne im Hotel letztens, funktionierte das gemeinsame Baden hier viel besser und ohne Unfälle. Sogar Lukas musste seine Beine nur ganz wenig anwinkeln und konnte mit seinem Rücken entspannt an mir liegen. Wir hatten das Badezimmer ein bisschen mit einem Rollo abgedunkelt und Lukas hatte ein Meer aus Kerzen aufgestellt. Mit dem Duft von Vanille und Kirschen in der Nase nahm ich immer wieder warmes Wasser mit meinen Händen auf und ließ es ihm sanft über die Schultern laufen.
„Wir haben gar nicht mehr über das gesprochen, was wir uns vorm Krankenhaus gesagt haben", sagte ich leise.
„Was meinst du?", fragte Lukas, setzte sich auf und sah mich an.
„Du weißt schon."
Er drehte sich wieder um und ließ sich tiefer ins Wasser sinken. „Ich liebe dich. Das haben wir nicht nur im Schock wegen Benni gesagt. Also ich jedenfalls nicht. Für mich ist das alles ja auch gar nicht so neu, wie für dich. Ich führe diese Beziehung in meinem Kopf schon länger als du."
„Okay", sagte ich erleichtert und entspannte mich ein wenig mehr. In den letzten Tagen, die wir hier alleine verbracht hatten, hatte ich mich nicht eine Sekunde lang unsicher gefühlt. Es war fast schon unheimlich romantisch, wir hatten unfassbar viel Spaß zusammen und es hatte nicht den kleinsten Hauch einer Unstimmigkeit gegeben. Auch, als ein paar Freunde von mir zu einem winterlichen Grillen mit Glühwein da gewesen waren, machten wir kein großes Geheimnis aus uns.
Nach der vierten Tasse hatte ich es ihnen einfach erzählt. Zwar dachten einige zuerst, ich würde sie verarschen, weil ich noch nie zuvor in Erwägung gezogen hatte, jemals mit einem Mann intim zu werden, geschweige denn eine Beziehung zu führen, aber nachdem ich und auch Lukas mehrfach versichert hatten, dass dies kein Scherz war, war es schnell in Ordnung. Jedenfalls war es das, was sie alle gesagt hatten. Was sie wirklich dachten, konnte ich nicht wissen, da man den Leuten bekanntlich nur vor den Kopf schauen kann. Aber selbst wenn es welche unter meinen Freunden gab, die das nicht akzeptierten, war es mir egal. Dann müsste ich mich nämlich fragen, ob das die richtigen Freunde für mich waren und nicht, ob Lukas der richtige Partner für mich war.
Seine Freunde kann man sich aussuchen, die Familie nicht. Daher wusste bisher nur Katharina auf der Seite von Lukas Bescheid, ansonsten noch niemand. Ich hatte jedoch vor, dies bald zu ändern.
„Wir sind jetzt ein richtiges Paar, oder?", fragte ich und sah nach oben. Das Kerzenlicht warf durch die Spiegelung des Wassers abstrakte Muster an die Decke.
Lukas lachte leise. „Ja, immer noch. Kannst du es immer noch nicht glauben?"
„Doch schon. Ich denke über was nach. Ich weiß nicht wie du das siehst, ich würde am liebsten der ganzen Welt von uns erzählen. Aber am meisten meiner Familie. Und der Rest der Band weiß ja auch noch nichts."
„Weihnachten", murmelte Lukas.
„Weihnachten?"
„Ja, wir laden einfach alle hier zu dir ein. Dann feiern wir Weihnachten. Vielleicht am sechsundzwanzigsten, da liegen die meisten normalerweise ja eh nur auf der Couch. Dann mach ich ein richtig geiles Weihnachtsessen und wenn genug Wein geflossen ist, sagen wir es einfach allen auf einmal."
„Wenns gut läuft, wär das natürlich fantastisch. Wenn es aber schlecht läuft, wird man sich an dieses Weihnachten noch ganz schön lange erinnern."
„Kannst ja mal drüber nachdenken. Aber jetzt zu einem anderen Thema", murmelte Lukas und zog eine Augenbraue nach oben.
„Das wäre?"
Breit grinsend nahm er meine Hand und führte sie über die zarte Haut seines Bauches nach unten, während er genießerisch die Augen schloss.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang im Schnee standen wir am Nachmittag tatsächlich vor einem Taxi, das Lukas an den Bahnhof bringen sollte. Ein paar vereinzelte Schneeflocken fielen und es war bitterkalt.
„Ich kann nicht fahren. Es schneit zu fest. Das Taxi bleibt bestimmt im Schnee stecken", sagte Lukas.
Der Taxifahrer, ein bärtiger Typ fortgeschrittenen Alters, packte beherzt den Koffer von Lukas und warf ihn mit einem Schwung in den Kofferraum. „Unsinn. Die paar Flocken."
Lukas sah mit großen Augen seinem Koffer nach. „Das schneit bestimmt gleich noch mehr."
„Willst du jetzt zum Bahnhof oder nicht?", fragte der Fahrer irritiert.
Lukas lachte. „Ja ist ja gut. Ja ich will zum Bahnhof."
„Dann steig ich jetzt ein und du besser auch, Junge. Von einem Fahrgast am Tach krieg ich meine Miete nich gezahlt."
Die Fahrertür schloss sich mit einem lauten Knall und Lukas sah mich seufzend an.
„Okay, ich muss jetzt also wirklich."
Ich zog ihn in eine lange Umarmung, die mich trotz der Eiseskälte augenblicklich wärmte. „In einundzwanzig Tagen sehen wir uns wieder."
„Das klingt so lange."
„Ist es auch. Aber das kriegen wir schon hin."
Warme Hände schoben sich an meinem unteren Rücken in den Pullover hinein. Lukas küsste mich ein letztes Mal. „Ich liebe dich."
„Ich liebe dich auch."

Ich sah dem Taxi nach, als es auf dem Weg weg von meinem Haus immer kleiner wurde. Bald konnte ich auch das Knirschen der dicken Schneeschicht, über die es fuhr, nicht mehr hören. Wehmütig zündete ich mir eine Zigarette an und genoss dieses bittersüße Gefühl, eine Mischung aus Abschiedsschmerz und Vorfreude auf das nächste Mal.

Zehn SekundenWhere stories live. Discover now