Drittes Kapitel

681 71 38
                                    

Die rauchige Stimme gehörte zu einer außerordentlich normalen Person. Ein Mensch ohne jeglichen Hang zum Funken sprühen. Beunruhigend, denn sie war ein Mensch, der hier ein besonderes Amt bekleidete. Überraschend, denn ein Detail passte nicht. Denn Olivia Hemswood war die Verlobte des Mr. DeQuincys. Ein Wesen, das durch und durch kein Mensch war, dessen Augen im Dunkeln violett leuchteten. Wie war es möglich, dass ein Mensch und ein Wesen, so wie Mr. DeQuincy eines war, heirateten? Den Hass überwanden? Welch ein Mensch verließ die heile Außenwelt, um sich dieser zu stellen? Wer nahm die fehlende Freiheit in Kauf? Es mussten Menschen dort draußen sein, die von der Existenz dieser Wesen wussten und dass machte mir Angst. Weswegen also genau, war Olivia Hemswood eine alltägliche Dozentin, dessen Verlobter an dem Londoner Institut unterrichtete?

Doch die dutzenden nicht gestellten Fragen, die meinen Schädel brummen ließen, beantwortete mir natürlich niemand, da meine Begleitung nicht dem Klauen von Gedanken zugeneigt war. Doch statt sie auszusprechen versuchte ich im Laufschritt mit dem schnellen Tempo von Miss Hemswood mitzuhalten, die in einer unglaublichen Geschwindigkeit einen mit lauter Türen gesäumten Korridor entlang eilte.

Ich wollte sie gerade freundlich darauf hinweisen, dass ich ihrer Geschwindigkeit bald nicht mehr stand halten konnte, als sie abrupt vor einer Tür inne hielt.

Sie war schlicht weiß und gab damit einen starken Kontrast zu den anderen Eingangsportalen ab, die sich dicht an dicht an die Seitenwände des schier unendlich langen Flures drängten.

Es waren weder lateinischer Sprüche über die Zeit in dem schlichten Buchenholz zu finden noch konnte man irgendwo am Türrahmen die goldene Zeituhr erkennen, die fast überall sonst abgebildet war. Das eigenartige Portal war unauffällig in die Holzmaserung des Korridors eingelassen und wäre Olivia Hemswood nicht direkt davor stehen geblieben, hätte ich die gekonnt verschleierte Buchenholztür glatt übersehen.

Prompt überkam mich das Gefühl, das mir schonungslos mitteilte, dass hier etwas – gewaltig - nicht stimmte. Unverhohlen stierte ich auf das ebene Holz vor mir und versuchte heraus zu finden, was mich so beunruhigte. Sprachlos beäugte ich das Ding, was mir nach kurzem Suchen ins Auge sprang. Das es mir nicht schon vorher aufgefallen war, war eigentlich ziemlich lächerlich so grotesk und verzerrt wie es aussah, hob es sich deutlich von der schlichten Oberfläche ab.

Es war ein metallenes Auge mit der Farbe der leichten Morgendämmerung, das Olivia und mich skeptisch beäugte. Mit raschen Bewegungen ließ es seinen durchdringenden Blick über meinen Körper und mein Gesicht schweifen, bis es abrupt auf der Höhe meiner Augen inne hielt.

Eine Gänsehaut zog sich binnen Sekunden über meine Arme und meinen Hals, dennoch hielt ich den eisigen Blick des seltsamen Türknaufs in Form eines menschlichen Auges stand, wie absurd es auch den Außenstehenden erscheinen mag.

Eine eisige Kälte durchfuhr meinen Körper als das Auge kurz zu leuchten begann. Ohne konkret nachgedacht zu haben, wusste ich, das es meine Gedanken las. Der seltsame Strudel aus Farben zog vor meinem inneren Auge wie eine rasende Achterbahn vorbei und ich bekam leichte Kopfschmerzen, als dieser noch an Geschwindigkeit zunahm und kein Ende nehmen wollte.

Es war vollkommen abwegig, dass ich nicht schon vorher von dieser Art Schmerz gewusst hatte. Dass ich nicht schon vorher von diesem Gedankenlesen gehört hatte, dass meine Eltern es mir gegenüber einfach nicht für wichtig genug gehalten hatten, es erzählen zu müssen. Sie hätten mich aufklären sollen. Dad hätte es tun sollen, denn ich war mir sicher, dass er mehr wusste, als er zugeben wollte. Mehr als ihm lieb war und doch genug, um sie zu hassen. Es war verrückt und außerordentlich lächerlich, es zuzulassen, mich auf ein Institut zu schicken, dass von keinen Menschen geführt wurde und mir noch nicht einmal dafür einen Grund nenn zu wollen. Ich hatte früher keine Ahnung gehabt, nicht bewusst, da ich zu jung gewesen war, die Andeutungen richtig wahrzunehmen. Ich habe in einer Scheinwelt gelebt, wie mir schmerzlich bewusst wurde. In einer Scheinwelt, in denen meine Eltern die Erschaffer waren. Die Schöpfer. Ich schnaubte verächtlich. Bis dann die Reden anfingen. Reden, die ich nicht ernst genommen habe. Ich hätte sie ernst nehmen sollen. Dann wäre ich eventuell ein wenig besser vorbereitet, doch meine Eltern waren schon immer kaputt. Mom in ihrer eigenen Welt, Dad in seine Arbeit vertieft. Beide viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sodass sie wenig von dem Leben dort draußen mitbekommen. Vielleicht war dies der Grund, weswegen sie mich weggeben haben. Ihre Verwirrung, ihre fehlendes Verständnis für menschliche Kommunikation. Vielleicht haben sie sich auch in dieser Welt verstrickt. Doch eines war mir klar, meine Eltern haben mich nicht ohne Grund zum Londoner Institut gebracht, auch wenn ich immer noch hoffte, sie würden nichts mit diesen Leuten hier zu tun haben, dass sie wirklich ganz normal sind und dass das hier ein richtig großes Missverständnis war.

Doch von einer Sekunde auf die andere hörte es urplötzlich auf und das Gefühl, als würde jemand von innen an meine Schädeldecke hämmern verschwand genauso schnell wie es gekommen war.

Anscheinend hatte Olivia Hemswood, die immer noch wie angewurzelt neben mir stand gemerkt, dass etwas nicht stimmte, denn sie verzog ärgerlich den Mund und zog finster die Augenbrauen zusammen, während sie das Auge voller Hass anstarrte.

„Es reicht Fergus, wir haben nicht ewig Zeit, deine Spielchen zu spielen", zischte sie in Richtung Tür.

Leises Gemurmel auf einer anderen Sprache, die ich nicht verstand, drang zu uns auf den Korridor zurück.

Es konnte nichts Gutes gewesen sein, denn Olivia zog noch fester die Augenbrauen zusammen, wenn das überhaupt noch möglich war.

„Sie ist harmlos", murmelte sie leise von mir abgewandt, damit ich ihre Worte nur undeutlich verstehen konnte. „Mr. und Mrs. Stewort sehen sie als vertrauenswürdig an, sei nicht so misstrauisch und schleiche dich nicht in ihre Gedanken ein, ihr Abwehrsystem ist zu instabil!"

Mrs. und Mrs. Stewort? Meine Eltern hatten mich als vertrauenswürdig bezeichnet? In welcher Angelegenheit denn vertrauenswürdig? Das war doch krank! Der Gedanke, dass meine Eltern mich gegen ihren Willen hatten gehen lassen müssen, nahm immer mehr Gestalt in meinem Kopf an und ich war überzeugt davon, dass sie zu dieser Kooperation gezwungen wurden. Die Tatsache, dass ich nicht einmal den Grund wusste, dass ich unwissend war und dass ich keinen blassen Schlimmer von dieser Welt hatte, sagte mir, dass ich richtig liegen musste. Wieso sonst hätten sie mich gehen lassen sollen?

Jeder erzählte mir nur Lügen, das ganze hier war ein Spinnennetz aus lauter falschen Wahrheiten, in das ich mich mit jeder Minute hier weiter verstrickte.

Ein Spinnennetz, dass meine Eltern derartig aus der Bahn geworfen haben muss, dass sie mich hatten gehen lassen. Sie waren meine Eltern, es muss ein gewaltiger Grund gewesen sein, denn auch wenn unser Verhältnis eher kühl war, mussten sie gewusst haben, dass ich mich nicht zurechtfinden werden würde. Sie mussten es gewusst haben, auch wenn wir uns nicht so nahe gestanden haben wie es andere Kinder zu ihren Eltern taten.

Doch noch ehe ich weiter in den Rätseln versinken konnte, rief mich die rasselnde Stimme des Türknaufs in die Gegenwart zurück. Heftig krächzend, als habe es arge Schmerzen im Rachen, versuchte es den stark lädierten Mund zu bewegen, um mit britischem Akzent einen Satz auf Englisch hervorzubringen, den ich auch verstehen konnte. Dabei ertappte ich mich, wie ich für einen Moment Mitleid für das Geschöpf in meinem Inneren aufkeimte. Es sah jämmerlich aus, wie es sonderbar den metallen Mund verzog und sich offensichtlich schwer tat, einen normalen Satz zustande zubringen.

Olivia ging es ähnlich wie mir. Sie verzog ihre Stirn gefühlsvoll und brachte den stammelnden Knauf mit einer sanften beschwichtigen Handbewegung zum Schweigen.

Langsam drehte sie sich zu mir um.

„Es tut sich wahnsinnig schwer mit Englisch, obwohl er hier schon seinen Leben lang ist. Er mag unsere Sprache nicht besonders, weil er sie nicht so recht die Wörter formen kann, da er keine Zunge besitzt, Sie verstehen schon."

Der Ansatz eines Lächelns schlich sich auf mein Gesicht bei dem Gedanken, mehr solcher Wesen kennenlernen zu dürfen und hingegen meines Verstands konnte ich nicht anders, als dieses Ding auf eine seltsame Art und Weise niedlich zu finden.

„Sie dürfen eintreten" fuhr Olivia im nächsten Moment raunend fort, während die Tür geräuschlos aufschwang. Ohne lange zu warten trat Olivia Hemswood in den sich hinter Buchenholztür auftunden Raum ein und ich folgte ihr zögernd, nachdem ich einen letzten raschen Blick in den Korridor geworfen habe, um mich zu vergewissern, dass sich niemand außer uns hier aufhielt. Denn ich war mir sicher, dass dieser Raum nicht umsonst mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen gesichert worden ist. Hinter dieser Tür befand sich etwas, dem nicht jedem Zutritt gewehrt war.

Wächter der ZeitTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang