Neuntes Kapitel

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Hinter den großen Fenstern der imposanten Eingangshalle zeichnete sich die Sonne des späten Nachmittags ab. Ich konnte die leichten Schemen des Mondes erkennen und hinter den Baumkronen zeigten sich die ersten roten Striemen. Kate hatte also Recht, die Zeit musste wirklich schneller voran geschritten sein, als gedacht. Doch eine plausible Erklärung existierte dafür nicht. Wie auch? Wissenschaftlich wäre dies niemals möglich gewesen. Doch zwischen der Wissenschaft und dem allen hier lagen Welten. Es war verwirrend und vor nur weniger als drei Tagen, hätte ich dies nie für möglich gehalten. Meine Eltern hätten dies nie für möglich gehalten und wovon sie überzeugt waren, von dem war auch ich überzeugt. Bis jetzt, auch wenn ich noch nicht einmal wusste, wo sie sich gerade aufhielten. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie über diese Ereignisse in Kenntnis zu setzten. Oder vielleicht wollte ich dies auch gar nicht. Versprochen hatte ich es ihnen nicht.

Während ich noch nachdenklich mein Umfeld betrachtete, lief Kate unbeeindruckt an mir vorbei und steuerte auf Henry zu, der mit Naima Mathew und ihren beiden Freundinnen an der gegenüberliegenden Wand lehnten. Sie unterhielten sich und man konnte den Schlagabtausch zwischen ihnen nur allzu gut verfolgen, beinahe konnte man Henrys erhitze Stimme bis hier hin vernehmen. Naima sah nieder geschlagen aus und Rose hatte besorgt einen Arm um sie gelegt. Sie machte fast einen bemitleidenswerten Eindruck, ganz im Gegenteil zu ihrem Gegenüber, der weder Augen für ihre Tränen hatte, noch ein Gefühl dafür, wann Schluss sein sollte, besaß. Beinahe erbost folgte ich Kate und gesellte mich zu der kleinen Gruppe, der nun deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als vorher. Es gab mir das unangenehme Gefühl, immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Leute zustehen, was mir mehr Angst einjagte, als Glücksgefühle bescherte.

„Lass gut sein, Naima" murmelte er noch in ihre Richtung, als er Kate entdeckte, die auf ihn zu stolzierte. Das er nun seine Aufmerksamkeit Kate widmete schien Naima nur noch mehr zu frustrieren und sie ließ sich, Tränen überströmt, in Roses Arme sinken, die mir einen umso finsteren Blick zu warf, als wäre ich daran Schuld, dass Kates selbstbewusste Art alle Blicke auf sich zog. Ich zuckte nur mit den Schultern und schenkte Henrys Freundin einen scheues Lächeln, ehe ich mich hinter Kate postierte und aufmerksam die Gesichter vor mit studierte. Das sie sich heute morgen noch gestritten hatten, schien völlig vergessen, da beide ihre Funken bei sich ließen und weder der eine noch der andere den Anschein erweckte, als müsse er sich duellieren.

„Wart ihr schon in der Bibliothek?" Henry musterte uns neugierig, während er, ohne den Kopf zu senken, begann, etwas in seiner Tasche zu suchen. Seine Tasche war vollgestopft mit Dingen, die einen so bizarren Eindruck zwischen den normalen Lehrbüchern erweckten, dass ich leicht grinsen musste. Hinter etlichen Büchern versteckte sich ein kleines Teleskop, Pergamentrollen türmten sich neben einem Tintenfass auf und hinter einem Stoß loser Papiere konnte man kleine Phiolen erkennen, die denen aus der Bibliothek sehr ähnelten. Wofür brauchte er die und wie betitelte man den Inhalt? Ich runzelte die Stirn, er musste die zierlichen Gefäße aus filigranem Glas aus dem bizarren Schutzbann gestohlen haben und damit den Schutzwall gebrochen haben, der ihn umgab. Woher wusste er, wie man diesen umging? Gab es eine Lücke im Sicherheitssystem? Nachdenklich glitt mein Blick von der Tasche zu seinem Gesicht und blieb an seinen Augen hängen. Würde ich erkennen können, wenn er sich so viel Wissen angeeignet hat? Man musste doch an der Haltung, an dem Funkeln in den Augen erkennen können, wie gerissen und clever eine Person ist. Sein Augen spiegelten jedoch nur mein mattes Abbild und wenn dort ein Glanz gewesen war, dann war er schon längst erloschen. Das unangenehme Gefühl des Gedankenlesens beschlich mich und blockierte den Zweig des Gehirnes, sodass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich keuchte auf und katapultierte mich wieder in die Realität, wo Kate mich seltsam besorgt musterte.

„Der Eingang zu Seele eines Menschen!" formte Henry die Worte stumm mit den Lippen, während Kate ein „Wie kann man sich nur so wegdenken" von sich gab. Ein zaghaftes Lächeln umspielte nun ihren Mund und sie ergriff meine Hand, als habe sie Angst, ich könne sofort umkippen, wenn ich mich wieder in meinen Gedanken verirre.

Wächter der ZeitWhere stories live. Discover now