Sechstes Kapitel

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Als ich den Waldrand erreichte musste ich keuchend stehen bleiben, um meinen Lungen endlich den gewollten Sauerstoff zu liefern, nach dem sie schon seit Minuten schrien. Ich konnte noch immer nicht begreifen wie ich so schnell rennen konnte. Das war weder menschlich noch normal und vor allen Dingen war es eine Gemeinsamkeit mit denen.

Mein ganzer Körper zitterte. Vielleicht war es vor Kälte oder wegen der Stille, die mich, seit ich den stehen geblieben bin umhüllte. Außer mein Atem konnte ich nichts in meiner Umgebung vernehmen. Weder das Rauschen der Bäume im Wind, noch die normalen Geräusche der Waldbewohner waren zu hören, als ich krampfhaft versuchte einen festen Stand in dem schlammigen Boden zu finden und nicht umzukippen.

Die Stille war unheimlich und augenblicklich zog eine Gänsehaut über meinen Nacken und Rücken, viel zu still. Vielleicht lag es auch an den beiden Faktoren, ich wusste es nicht.

Bibbernd lief ich weiter und drang in das feste Unterholz des kahlen Laubwaldes ein, der während dieser Jahreszeit nur allzu karg war. Das fahle Mondlicht drang gespenstisch durch die Äste hindurch auf den glatten matschigen Boden, der an einigen Stellen mit einer leichten kristallenen Schicht überzogen war.

Immer wieder entglitt mir meine Balance und ich suchte wild mit den Armen rudernd Halt an den eng stehenden Bäumen, die den Anschein einer fast unüberwindbaren Mauer machten.

Gierig sog ich die eisige Luft des Winters ein, die mich fast starr von innen werden lies. Doch es machte mir nichts aus, sie machte mich taub und Taubheit schützte mich in diesem Moment vor dem Ansturm der Gefühle, der drohte, mich zu ertränken. Vielleicht war es nur die Unsicherheit oder Verwirrtheit, die mich dazu brachte, mich einer so gefährlichen Kälte aus zu setzten, oder Wut auf meine Eltern, die mich zu einem Ort geschickt haben, an dem ich unmöglich leben konnte, ohne verrückt zu werden. Möglicherweise haben sie auch gar nichts von der außergewöhnlichen Tätigkeit der Wesen in diesem Institut gewusst? Vielleicht haben sie mich auch guten Gewissens dorthin geschickt und gedacht es würde mich weiterbringen.

Das würde nur nicht den Fahrer, den Mr. DeQuincy gesandt hatte, erklären. Was hatte das für einen Sinn, mich in einen ihnen fremden Wagen zu stecken, ohne zu wissen ob er wirklich je sicher ankommt oder eventuell nur das Vertrauen ihrerseits missbraucht hat? Sie hätten mich bringen müssen, so wie es jedes Elternpaar mit einem ihrer Kinder gemacht hätte.

Anderenfalls waren meine Gedanken bestimmt auch nur Hirngespinst einer unterkühlten Jugendlichen, bei der die Kälte schon zu Kopf gestiegen ist. Meine Eltern würden mich nie so im Stich lassen.

Langsam brach ich durch das letzte Buschwerk und gelang auf eine Lichtung, die hell vom Mondlicht erleuchtet wurde. Die kahlen Baumstämme, die den Rand säumten und sie vom Rest des Waldes abtrennten, spiegelten mithilfe der abertausenden Eiskristallen das Licht und ließen es so grell erscheinen, dass ich für einen kurzen Moment die Augen schließen musste.

Auch hier war es furchtbar still, jedoch passte diese Art von Stille zu ihrer Umgebung. Sie war nicht angsteinflößend, eher faszinierend und bedrohlich zugleich. Wie konnte etwas so gefährliches so schön sein? Es ist wie mit dem Spiel mit Feuer. Es fasziniert einen, reißt einen mit in den Bann des Lichtes und der Unbesiegbarkeit, doch spürt man erst einmal den Schmerz und das Leiden, das es anrichtet, so wirkt es zerstörerisch und verletzend. So wie Feuer kann auch Eis so etwas anrichten. Kälte es genauso gefährlich und unberechenbar. Man weiß nie wann der Zeitpunkt gekommen ist, umzukehren. Und dann es zu spät. So wie es bei mir auch bestimmt zu spät ist. Das Gefühl den Schmerz nicht zu spüren ist besser als die Realität.

Ein plötzliches Knacken des Holzes riss mich aus meinen wirren Gedanken und holte mich zurück zu der Lichtung, die anmutig dort im Stillen lag. Ich wirbelte um meine Achse, ohne auf das Ächzen meiner kalten Glieder und Gelenke zu hören. Mein Blick fuhr über das hell glitzernde sonst so karge Buschwerk um unteren Ende der meterhohen Winterbäume und blieb an einer besonders undurchdringlichen Stelle hängen, an der mehrere Dornenbüsche eng in einander verschlungen jeden Eindringling mit den spitzen Dornen abwehrten.

Wächter der ZeitWhere stories live. Discover now