Wächter der Zeit

Fünftes Kapitel

Noch immer in die Zeilen des Briefes versunken, jagte ein Gedanke in meinem Kopf den nächsten und bildete zusammen mit seinen Komplizen eine Reihe aus Fragen, die ich mir einfach nicht beantworten konnte. Warum in aller Welt schrieb mir eine völlig unbekannte Kongregation? Eine Kongregation, die noch nie in den Medien war, von der nie jemand Notiz genommen hat und die mich jetzt zu einer Kooperation drängte. Ich war mir sicher, würde man mir jetzt in die Augen sehen, so würde man nur meine aufrichtige Verwirrung sehen. Verwirrung, die alles andere überschattete. Es war keine Verzweiflung, obwohl die bald noch kommen würde, da kannte ich mich zu gut. Ich war nicht sonderlich stark. Sowohl körperlich als auch emotional nicht und Wesen, die Dinge durch die Luft schweben ließen, brachten mich schon echt an meine Grenzen.

Es war mir geradezu ungeheuerlich und schleierhaft, dass mir, Evelyn Hunter, Regierungsmächte einer fremden Welt schrieben und mich anheuerten, einer geheimen, im Schatten verborgenen, Organisation und Macht anzuschließen, deren Mitglieder Funken versprühten und Gedanken lasen. Doch noch etwas anderes keimte in mir auch. Zweifel, denn sie konnten mich nicht umsonst zu sich geholt haben. Es wäre schier zu gefährlich, mich als Mensch nah an sie heran zu lassen. Was war ich, dass mich Wesen wie sie holten? Wesen, die anders waren. War ich einer von ihnen? Eine Gehasste?

Es war unheimlich von fremden Menschen, die Dinge heraufbeschworen, gesagt zu bekommen, dass man keiner menschlichen Lebensform entspräche, ohne noch hinzuzufügen, welcher Rasse man an dieser Stelle denn stattdessen verträte. Wie das schon klang. Rasse. Als ob ich einer neu gefundenen Insektenart angehören würde, deren Abstammung äußerst selten war.

Ich seufzte. Das war doch schlicht und ergreifend zum verzweifeln. Zum scheitern verurteilt. Und unglaubwürdig. Unglaubwürdig. Das Wort hallte in meinem Kopf noch und hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund zurück, als mir urplötzlich die Galle die Kehle hinauf stieg und ich dagegen ankämpfen musste, nicht in Tränen auszubrechen. Denn das wollte ich nicht. Nicht das Gefühl von Angst und Verunsicherung zurücklassen und ausstrahlen. Denn sich selbst von der Angst ergriffen darzustellen, könnte sich als reines Selbstmordkommando herausstellen. Denn war Angst hatte, war schwach und Schwäche unter Kämpfern, dass kannte man nicht. Dass gehörte sich nicht und jeder von ihnen konnte kämpfen, da war ich mir sicher. Sie mussten sich doch wehren können, sie mussten gewappnet sein, worauf auch immer und da konnten sie mich ganz und gar nicht gebrauchen. Nicht als Zielscheibe, deswegen riss ich mich zusammen.

Entschlossen blinzelte ich die aufsteigenden Tränen, die mir die Kehle zuschnürten, weg und unterdrückte den Drang laut aufzuschluchzen. Unglaubwürdig hieß wenigstens eines, es gab noch immer die Chance, dass ich ein Mensch war. Ein wirklicher Mensch mit Eltern, die keine Gehirnmuster studierten und Gedanken lasen. Es war genauso absurd daran zu glauben, eine Übernatürliche zu sein, als nach all dem was passiert war, zu denken, menschlich zu sein. Und mein Favorit war eindeutig das Letztere.

„Sie sind einfach noch zu verwirrt, um die Situation und dessen Wichtigkeit zu begreifen, Miss Evelyn Hunter. Doch sein Sie sich gewiss, Ihr Hirnmuster und Ihre Gedanken sind viel zu verstrickt, verzweigt und zu kompliziert, als dass sie einem Mensch gehören könnten", vernahm ich eine Stimme, die sich so ziemlich direkt vor mir befand. Eigentlich konnte ich die genaue Anzahl der Wimpern dieser Wimpernkränze bestimmen, so nah war ich der Person, deren Stimme ich gehört hatte.

Erschrocken wich ich zurück, so gut mir dies gelingen konnte, während ich mich noch immer auf einem Stuhl befand, und fragte mich, wie ich verdammt nochmal nicht hatte mitbekommen können, wie diese Person sich mir genähert hatte. Ich musste viel zu sehr mit meinen Gedanken abgedriftet sein, als dass ich die Schritte gehört hätte. Oder er hatte es darauf abgesehen, mich in einer Situation abzufangen, die mir nicht all zu sehr einen Vorteil verschaffte.