1. Ein Wasserglas

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"Als ich sie zum ersten Mal sah, kam sie mir wie ein Engel vor. Sie bestellte ein Glas Wasser. Das tat sie immer, nur dieses eine Glas ..."

*****

Mir war schon von Anfang an klar gewesen, dass ich, wenn der Zeitpunkt gekommen war, das Restaurant meiner Eltern übernehmen würde. Ich arbeitete dort als Kellner und backte des Öfteren auch einen der hausgemachten Kuchen, welche die Gäste so sehr mochten.

Dieser besondere Tag wird mir allerdings nie wieder aus dem Kopf gehen. Der Tag, an dem ich sie zum ersten Mal sah.

Sie war meiner Schätzung nach etwa neunzehn oder zwanzig, also in meinem Alter. Durch die kleinen Glöckchen, die über dem Eingang aufgehängt waren, bemerkte ich sofort, dass jemand eingetreten war und ich ging zur Tür, um den neuen Gästen einen Platz zu weisen. Aber es war nur dieses Mädchen. Hellblonde, leicht gewellte Haare umspielten ihr Gesicht, aus denen ihre blauen Augen hervorstachen. Noch nie hatte ich zuvor ein Mädchen gesehen, das solche himmelblauen Augen hatte.

Ihre Gesichtszüge waren sanft und weich, doch sie lächelte nicht, sondern sah sich mit einem hastigen Blick um.

"Einen Tisch für eine Person?", fragte sie mich dann mit ihrer hellen, sanften Stimme und ich nickte freundlich. Sie war eine der Personen, bei denen mir das Lächeln, das ich als Kellner immer aufzusetzen hatte, nicht schwerfiel.

"Natürlich, hier entlang, bitte", meinte ich und geleitete sie zu einem Tisch am Fenster, nahm ihr die Jacke ab und hängte diese an einen der dafür vorgesehenen Haken.

"Darf ich Ihnen das Menü geben?", bot ich ihr dann höflich an und reichte ihr die Speisekarte. Einen Moment lang sah sie verwirrt darauf, bevor ihr Blick wieder zu mir schoss.

"Ich möchte nur ein Glas Wasser ohne Kohlensäure, bitte", erklärte sie dann.

Es war merkwürdig, so etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Wer ging in ein Restaurant, um sich ein Glas Wasser zu bestellen? Aber es war nicht meine Aufgabe, Fragen zu stellen. Ich hatte die Kunden zu bedienen und mich freundlich aber ruhig zu verhalten. Also lief ich schnellen Schrittes zur Küche und nahm selbst eines der Gläser, füllte es mit Wasser und trug es zu ihrem Tisch. Dafür brauchte es schließlich keinen Koch.

Als ich bei ihr ankam, hatte sie ihren Blick auf das Fenster gerichtet. Sie schien jemanden zu beobachten, denn ihre Augen bewegten sich langsam von einer Seite der Scheibe zur anderen.

Da ich sie nicht stören wollte, stellte ich das Glas leise ab. Wohl nicht leise genug, denn sie fuhr zusammen, starrte dann auf ihr Wasser und lächelte mich scheu an.

"Danke", sagte sie und schloss ihre Finger darum ohne einen Schluck zu trinken.

"Sehr gerne", antwortete ich strahlend. "Kann ich Ihnen sonst etwas bringen?"

Sie schüttelte mit dem Kopf. "Nein, danke."

Dann wanderte ihr Blick wieder nach draußen und ich wurde von einem anderen Gast gerufen.

An diesem Tag verrichtete ich meine Arbeit wie sonst auch, jedoch erwischte ich mich selbst immer wieder dabei, wie mein Blick zu dem sonderbaren Mädchen huschte. In der gesamten Zeit sah sie nach draußen. Ab und an nippte sie am Wasser, trank allerdings nie wirklich viel.

Sie war hübsch, daran gab es keinen Zweifel, aber es war etwas anderes, was sie für mich interessant machte. Ich konnte nicht einmal selbst sagen, was genau es war. Sie schien ein einziges Rätsel zu sein.

Sie beachtete mich kein einziges Mal. Ich war in ihrer Welt nichts anderes als der Kellner, der sie zu ihrem Tisch begleitet und ihr ein Glas Wasser serviert hatte. Zudem stach ich auch nicht sonderlich heraus, mit meiner typischen Kellnerkleidung: ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Weste, eine ebenfalls schwarze Hose und eine Krawatte dazu.

Ab diesem Zeitpunkt kam sie jeden Tag. Nicht immer zur gleichen Zeit, manchmal saß sie schon am Tisch und sah hinaus, wenn ich vom oberen Stockwerk, in dem meine Familie und ich lebten, kam, ein anderes Mal sah ich sie nur flüchtig, weil meine Schicht gerade endete. Aber ich konnte mir sicher sein, dass sie kam, sich ein Glas Wasser bestellte und sich an den Tisch am Fenster setzte. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn schon als ihren Tisch bezeichnete. Irgendwann kam es mir sogar seltsam vor, wenn ich jemand anderen dort sitzen sah.

Sie behandelte mich stets freundlich, bedankte sich höflich, wechselte aber kein weiteres Wort mit mir. Wenn sie ihr Glas ausgetrunken hatte, was an manchen Tagen mehrere Stunden dauern konnte, da sie immer nur in winzigen Schlücken trank, zahlte sie und ging.

Auch meinen Mitarbeitern fiel sie auf, doch wenn ich die Möglichkeit hatte, suchte ich nach einer Ausrede, um sie bedienen zu können. Es hatte sich ebenfalls bald eingebürgert, dass sie unter den Kollegen nur noch als Harrys Mädchen bekannt war. Ich fand diese Bezeichnung nicht wirklich passend, sie klang, als hätten wir eine Beziehung oder wenigstens irgendeine besondere Verbindung, allerdings ließ ich sie reden und kümmerte mich nicht weiter darum, da dies bedeutete, dass ich derjenige war, der sie zu ihrem Tisch geleiten und ihr das Wasserglas bringen konnte. Sie war das Rätsel, das ich um jeden Preis lösen wollte.

Es gab so viele unbeantwortete Fragen, die in mir im Kopf herumschwirrten und die nur darauf warteten, gestellt zu werden.

Wer war sie?

So gut wie jeden unserer Stammkunden kannte ich wenigstens beim Nachnamen.

Wieso kam sie jeden Tag?

Es gab mehrere Typen von Kunden. Diejenigen, die ein paar Mal im Jahr zu besonderen Festen vorbeikamen. Dann solche, die uns fast wöchentlich besuchten und die wir als unsere Stammkunden bezeichneten. Und schließlich die, die nur einmal hierher kamen, vielleicht hatte es ihnen ja nicht geschmeckt oder sie waren nur eine begrenzte Zeit lang hier. Aber keiner von ihnen kam jeden Tag. So etwas hatte ich zuvor noch nicht erlebt.

Wieso wirkte sie stets so abweisend?

Mit den meisten Gästen unterhielt ich mich. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, wie Personen aussahen, die sich gerne unterhalten würden und auch wie jene wirkten, die in Ruhe gelassen werden wollten. Sie wirkte anders. Sie war höflich, bedankte sich, sprach aber von sich aus nicht. Es wirkte nicht so, als wäre sie von Grund auf abweisend, eher, wie wenn sie zu tief in ihren Gedanken versunken wäre, um sich mit jemandem zu unterhalten.

Und wieso verhielt sie sich so seltsam?

Noch nie zuvor hatte ich eine Person gesehen, die stundenlang aus dem Fenster sah, ohne auch nur ein einziges Mal aufzublicken. Dazu kam die Art, wie sie über ihre Schulter schaute, nachdem sie eingetreten war und danach alle Gäste kurz mit ihrem Blick fixierte. Wie wenn sie jemanden suchen würde.

Ich beschloss, dass ich diese Fragen beantworten musste. Ein merkwürdiges Vorhaben, da ich absolut nicht wusste, wie ich an die Sache herangehen sollte, letztendlich war ich nichts als ein Kellner, jedoch schwor ich mir, dass ich diese Geheimnisse irgendwann und auf irgendeine Weise erfahren würde.

Ich hätte vorsichtiger mit meinen Schwüren umgehen sollen.

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now