Epilog

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Man kann das Gefühl jemanden zu verlieren nicht beschreiben. Vermutlich kann man es sich nicht einmal vorstellen, wenn man es noch nicht erlebt hat. Es ist seltsam, weil es einem gut geht. Man hat keine Schmerzen. Und dennoch fühlt man sich verletzt, denn trotzdem ist auf eine sonderbare Weise ein Schmerz vorhanden. Wenn man ausatmet, bekommt man ein Gefühl des Fallens, auch, wenn man auf festem Grund steht. Beim Einatmen hingegen fühlt es sich an, wie wenn man ertrinken würde. Eine unglaubliche Last, die auf einem liegt und einem das Atmen erschwert. Es reißt einen innerlich in Stücke. Und es verschwindet nicht. Es wird zum stetigen Gefährten, an den man sich gewöhnt, so gut es eben geht. Aber es ist da. Und es wird bleiben.

Zufälle. Manche glauben nicht daran. Manche glauben an Schicksal. War es Schicksal, dass es so kommen musste oder doch die Auswirkung einer besonders großen Ansammlung an Zufällen? Ich wusste nicht, was mir lieber zu glauben war. Die erste Möglichkeit würde bedeuten, dass Amaras Tod lediglich ein weiterer Zufall war. Konnte man den Tod als Zufall beschreiben? Die zweite Möglichkeit jedoch sagte aus, dass irgendetwas, irgendjemand, den grausamen Plan gehabt hatte, das Mädchen in den Tod zu treiben. Ebenfalls keine sonderlich erfreuliche Vorstellung.

Zuhause sprach mich niemand auf den Psychologenbesuch an. Sie alle wussten es, aber keiner wagte sich an dieses Thema. Es war etwas, über das man nicht redete. Das man möglichst schnell vergessen sollte. Doch ich wollte nicht vergessen. Ich wollte mich ewig an das Mädchen mit den himmelblauen Augen erinnern können. Das war der Grund, weshalb ich die Kette niemals abgelegt hatte.

Louis arbeitete im Restaurant, als ich durch die Tür trat. Er hatte ein junges Pärchen neben sich, welches er soeben zu einem Tisch geleiten wollte, doch als er mich sah, blieb er stehen. Auch er wusste Bescheid. Ich war ihm nicht böse. Amara hatte Recht behalten, es war nicht seine Schuld. Er konnte nichts dafür. Früher oder später hatte es so enden müssen.

Langsam schritt ich hinein und fühlte etliche Blicke auf mir liegen. Louis hatte sich mittlerweile wieder seiner Arbeit zugewandt und geleitete die beiden jungen Menschen zum Tisch am Fenster. Sie waren beinahe dort angelangt, als meine Stimme durch den Raum hallte.

"Der Tisch ist besetzt", sagte ich klar und deutlich, was meinen Freund zum Aufblicken brachte.

Er sah mich einen Moment lang fragend an, doch hinterfragte mein außergewöhnliches Verhalten sonst nicht sondern akzeptierte es ganz einfach und führte das Paar zu einem anderen Tisch. Ich währenddessen machte mich auf den Weg zur Küche. Einem inneren Drang folgend, nahm ich mir ein Glas, füllte es mit Wasser und ging zurück zum Tisch. Dort stellte ich es sanft ab, damit nichts überschwappte.

Eine winzige Erinnerung. Ein kleiner, heller Funke in einem dunklen Raum. Etwas, das für keinen sonst eine Bedeutung hatte. Nur für mich.

"Alles gut?", fragte Louis mich und drückte sanft meinen Arm, während er mich mitfühlend ansah.

Natürlich wusste er, dass nicht alles gut sein konnte. Aber trotzdem nickte ich.

"Ja", meinte ich und schluckte. Meine Stimme brach ab, weshalb ich nicht weiter reden konnte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und hastete aus dem Raum. Ich hielt es nicht länger aus.

Im Treppenhaus angekommen, blieb ich plötzlich stehen, weil ich den Grund zum Weitergehen nicht mehr sah. Wieso sollte ich auch?

Sie war wegen zu vielen Missverständnissen gestorben. Missverständnisse, für die keiner etwas gekonnt hatte. Aber es hatte sich gesammelt und letztendlich das Fass zum Überlaufen gebracht. Es waren Missverständnisse gewesen.

Oder etwa nicht?

Natürlich gab es für alles eine ganz gewöhnliche Erklärung. Aber eine leise, schwache Stimme in meinem Kopf, hielt mir einen Gedanken vor.

Was wenn doch? Was, wenn sie Recht gehabt hatte?

Ein Dämon, der auf Erden wandelte. Durch ihr Opfer hatte sie die Welt davon befreit. Sie war ein Held, der nie gefeiert werden würde. Still und leise hatte sie die anderen gerettet, ohne Dank dafür zu erhalten.

Ich würde Fremden nicht mehr so vertrauen können, wie ich es getan hatte. Immer würde mir eine Frage aufkommen.

Was, wenn es doch gestimmt hatte? Was, wenn es noch mehr von dieser Sorte gab? Und was, wenn genau etwas solches sich gerade vor mir befand?

Jedoch musste ich mich beruhigen. Mein Leben könnte schlechter sein. Ich hatte einen sicheren Job, eine Familie und einen besten Freund. Doch es war nicht mehr perfekt. Es würde niemals mehr perfekt sein. Und das, weil eine bestimmte Person darin fehlte. Vielleicht, ganz vielleicht, würde ich irgendwann jemand anderen finden. Jemanden, der in mir das gleiche Gefühl auslöste und mit dem ich glücklich werden konnte. Das würde jedoch nie etwas daran ändern, dass Amara einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen hatte. Ich war mit ihr verbunden und diese Verbundenheit ging über den Tod hinaus. Ein Teil von mir würde immer ihr gehören. Dem Mädchen mit den himmelblauen Augen und den hellblonden Haaren, das mir von Anfang an wie ein Engel vorgekommen war.

Ein Engel, das war sie nun. Und ich war mir sicher, dass sie mich sah. Sie war dort oben und würde auf mich achten. Sie würde mich nie im Stich lassen. Und eines Tages würden wir uns wieder sehen. In einer Welt, die besser als diese hier war. Einer Welt, in der es keine Probleme gab, keine Dämonen oder Teufel. Ich würde diesen Tag ruhig abwarten. Und bis dahin würde ich mein Leben leben. Denn damit gab ich ihrem Tod einen Grund. Sie war gestorben, um mich sowie alle anderen zu retten. Dies wollte ich nicht einfach zunichte machen.

Vorsichtig berührte ich das Silberkreuz.

"Wir sehen uns wieder", flüsterte ich leise. "Irgendwann. An einem besseren Ort. Zu einer besseren Zeit. Irgendwo, wo es keine Sorgen und Probleme mehr gibt. Nur uns beide."

Ende



Hallöle!

Danke! Ich hoffe, es hat Dir gefallen! Würde mich natürlich über Votes und Kommentare freuen (aber da dies jeder Autor tut, sehe ich keinen Grund, weiter darüber zu reden).

Mal gucken, wer es diesmal bis hier hin geschafft hat. xD

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now