24. Erklärungen

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"Der Tag fing schrecklich an. Ich hatte nicht aufstehen wollen. Aber letztendlich schien er doch nicht so schlecht zu werden ..."

*****

Der nächste Morgen glich meiner Stimmung exakt: Er war grau und düster, es sah nach einem Gewitter aus. Es fiel mir schwer, einen Grund dafür zu finden, aus dem Bett zu steigen. Was brachte es? Wozu sollte ich in meine alltägliche Routine zurückkehren, wenn doch nichts mehr so war wie davor? Seltsam, wie die Dinge sich nie veränderten und trotzdem so unbekannt waren.

Jedoch raffte ich mich schließlich dennoch dazu auf, aus dem Bett zu steigen und ins Bad zu gehen. Nach einer kurzen Dusche wankte ich zum Waschbecken und stützte meine Hände darauf ab. Ich schob meinen plötzlichen Schwächeanfall auf die feuchte, warme Luft hier drinnen, die sich fast tropisch anfühlte, aber mich selbst zu belügen war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich wusste, dass es nicht daran lag. Genauso wenig lag es an der feuchten Luft, dass eine Träne auf das Becken tropfte und langsam im Abfluss verschwand. Es war weniger eine Träne des Trauers, als eine des Kummers. Ich machte mir Sorgen um sie. Er hatte immer noch eine Drohung hinterlassen. Ich wusste nicht, ob sie sich alleine wehren konnte. Doch ich hatte ohnehin keine Möglichkeit, ihr irgendwie zu helfen. Es hätte sogar sein können, dass sie mittlerweile nicht einmal mehr in der Stadt war.

Energisch griff ich nach einem Handtuch, um den beschlagenen Spiegel abzuwischen. In der Bewegung inne haltend, streckte ich meine andere Hand nun ebenfalls aus. Sie schmerzte wieder ein wenig, ich hatte Amara mit aller Kraft festhalten müssen, nicht gerade förderlich für ein noch angeschlagenes Handgelenk.

Langsam tastete ich auf dem Spiegel nach meinem Gesicht. Ich sah verändert aus. Unter meinen vom Weinen geröteten Augen hatten sich, ohne, dass es mir zuvor aufgefallen war, dunkle blau-lilane Ringe gebildet, während mich meine grünen Augen besorgt anstarrten.

Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, aber ich sah meiner Meinung nach durch den Kummer gealtert aus. Wie als wäre ich mindestens dreißig, nicht gerade mal dreiundzwanzig.

Seufzend zog ich mich dennoch an, verließ meine Wohnung und wollte hinunter gehen. Ich war auf der Suche nach Arbeit, denn ich konnte diese Ablenkung gut gebrauchen. Ich wollte nicht denken müssen.

Schon von der Treppe aus hörte ich die lauten Stimmen meiner Eltern. Sie stritten sich vermutlich. Etwas, was ich gerade jetzt nicht gebrauchen konnte.

"Sollen wir jetzt vorbereiten oder nicht?", rief meine Mutter in dem Moment aus, in dem ich leise durch die Tür schlüpfte.

"Sie hatten sich melden wollen!", verteidigte mein Vater sich.

"Haben sie anscheinend aber nicht!", gab meine Mutter zurück und raufte sich die Haare. "Wir können es uns nicht leisten, einen Tag zu schließen, wenn letztendlich doch keiner kommt!"

"Was sollen wir denn sonst machen?", entgegnete mein Vater. "Wenn sie jetzt doch kommen, haben wir auch ein Problem. Wir können genauso wenig Kunden verlieren!"

Vorsichtig trat ich ein wenig näher. Dads Kopf schoss herum, er fixierte mich kurz hoffend und gleichzeitig flehentlich.

"Harry, hast du irgendwas mitbekommen?", fragte er mich dann und ich runzelte die Stirn.

"Was denn mitbekommen?", hinterfragte ich desinteressiert, schnappte mir einen Lappen und begann, die ohnehin schon sauberen Tische noch einmal abzuwischen.

"Ob die Waters heute kommen", meinte er und sah mich immer noch erwartungsvoll an. "Sie hatten noch mal vorbeikommen wollen. Allerdings wissen wir beide von nichts!"

Nun doch aufmerksam geworden, hielt ich in der Bewegung inne und fragte: "Wann sollte das denn gewesen sein?"

"Spätestens gestern", murmelte meine Mutter.

Ich starrte die beiden kurz fassungslos an, dann griff ich in meine Tasche und fühlte nach dem Zettel.

Wir kommen morgen

Konnte es sein? War es etwa möglich ...?

"Hätten sie sich in der Tür geirrt haben können?", wisperte ich leise, ließ den nassen Lappen nun vollends auf dem guten Holztisch liegen und riss die Augen auf.

"Bitte sag mir, dass du etwas weißt", flehte meine Mutter und ich nickte langsam, während ich schluckte.

"Natürlich", entfuhr es mir dann leise. Ich hätte mich ohrfeigen können. Mit einem Mal kam mir alles so unglaublich logisch vor. Wie hatte ich auch nur ansatzweise auf die lächerliche Idee einer Drohung kommen können?

"Wenn mich nicht alles täuscht, dürften sie heute kommen", murmelte ich leise, was meine Eltern dazu brachte, erleichtert zu seufzen.

Mir war jedoch nicht nach Erleichterung zu Mute. Ich war so unfassbar dumm gewesen! Bei dem Mann hatte es sich wahrscheinlich lediglich um einen verwirrten Mr Waters, einen unserer Stammkunden, gehandelt. Er hatte gedacht, dass meine Wohnung schon die meiner Eltern war, vermutlich hatte er lediglich auf den Nachnamen geachtet. Als er gedacht hatte, dass niemand zu Hause war, hatte er einen Zettel hinterlassen. Und ich hatte es wirklich für eine Drohung gehalten! Wie unglaublich blöd ich mir nun vorkam.

Gerade in dem Moment empfing mein Handy eine neue Nachricht. Als ich nach sah, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Es handelte es sich um eine neue Nachricht von Amara!

'Treffen bei der Brücke?'

Lautete sie. Und ich Dummkopf hatte wirklich geglaubt, dass es sich bei dem Abschied gestern um einen Abschied für immer handeln würde! Immer dümmer kam ich mir vor, jedoch war ich gleichzeitig zu unfassbar erleichtert und glücklich, dass ich hätte Luftsprünge hätte vollführen können.

"Stellst du die Tische zusammen, Harry?", fragte mein Dad, doch zu meinem eigenen Erstaunen schüttelte ich mit dem Kopf.

"Tut mir leid", entschuldigte ich mich und wirbelte herum. "Es ist ein Notfall!"

Im Laufen antwortete ich Amara, dass ich bald da sein würde. Der Tag hatte so schlecht angefangen, doch nun schien sich letztendlich doch noch alles zum Guten zu wenden ...

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now