16. Die richtige Entscheidung

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"Ein Gedanke ist ein lästiger Parasit. Hat er sich erst einmal in deinen Kopf eingeschlichen, ist es fast unmöglich, ihn zu vergessen ..."

*****

Meine Eltern waren nicht gerade begeistert, als sie am nächsten Morgen meine Hand sahen. Der Arzt bestätigte meine Vermutung: es handelte sich hierbei um eine Prellung.

Dass man zu ziemlich vielen Dingen eine gesunde rechte Hand braucht, wurde mir damit erstmals wirklich bewusst. Das Geschirr musste man zwar nur in einer Hand tragen, aber wer schon einmal versucht hat, mit einer geprellten rechten Hand einen Teller auf den Tisch zu befördern, weiß, dass es kein Zuckerschlecken ist.

Nach langem Überlegen mussten sich selbst meine Eltern eingestehen, dass es keinen Sinn machte, mich so arbeiten zu lassen, weshalb ich für die nächste Zeit von meinem Job befreit wurde. Das gefiel mir allerdings nicht gerade gut, denn dies hieß lediglich noch mehr Zeit, in der ich einfach in meiner Wohnung saß und mir den Kopf darüber zerbrach, was zu tun sei.

Der Gedanke daran, dass sie vielleicht wirklich die Wahrheit gesagt haben könnte, ließ mich nicht mehr los. Ich konnte mir selbst oft genug einreden, dass es sich bei all dem nur um Zufälle handelte, dass die Frau, die in ihrer Wohnung gewesen war, wahrscheinlich gar keine böse Absicht gehabt hatte und, dass der Mann, der uns vor der Disco abgefangen hatte, einfach ein perverser Typ gewesen war, ein Straftäter natürlich, aber kein Dämon oder der gar der Teufel in Person. Das war eine Möglichkeit. Doch es konnte ebenso gut die andere sein, nämlich, dass Amara wirklich von etwas verfolgt wurde, was die moderne Wissenschaft nicht erklären konnte. Und langsam begann ich zu glauben, dass dies die wahrscheinlichere Erklärung für all die Vorfälle war. Wie großes Pech müsste man ansonsten haben? Wie viele Zufälle müssten es in den letzten Wochen gewesen sein, wenn man es wissenschaftlich erklären wollte?

Nachdenklich saß ich nun bei mir zu Hause, trank eine Tasse Tee und starrte aus dem Küchenfenster. Ich war ein paar Mal bei Amara gewesen, beziehungsweise bei Zayn, aber auch das hatte nicht geholfen. Ich stand vor einer Entscheidung, bei der kein anderer mir helfen konnte.

Sollte ich realistisch denken, alle Vorfälle als Zufälle abstempeln und zu einem Psychologen gehen?

Sollte ich ihr Glauben schenken, mich keiner fremden Person mehr anvertrauen und auf ein Wunder hoffen, das verursachte, dass sie ihren stetigen Verfolger endlich los wurde?

Egal für welche Möglichkeit ich mich entscheiden würde, es würde mir immer falsch vorkommen. Es erschien mir unmöglich, etwas Richtiges zu wählen. Immer würde mir eine Stimme in meinem Kopf vorhalten, dass es anders ebenso wahrscheinlich hätte sein können. Also saß ich einfach da und wartete auf den Geistesblitz, der mich erlösen und mir sagen würde, was ich zu tun hatte. Höchstwahrscheinlich würde er niemals kommen.

Mit Möglichkeit Nummer eins würde ich Amaras Vertrauen zu mir auf jeden Fall zerstören, mit der zweiten jedoch lief ich auf das Risiko hinaus, dass ich irgendwann bemerken würde, dass es sich wirklich nur um reine Einbildung handelte und, dass ich ihr viel früher hätte helfen können. Vielleicht wäre jetzt der Zeitpunkt gewesen, an dem man noch etwas hätte verbessern können und später würde sie so fest von ihrem Glauben überzeugt sein, dass selbst ein Experte nichts mehr daran würde ändern können.

Viele hätten mich für dumm gehalten, sie hätten behauptet, dass sie schon viel früher zu einem Psychologen gegangen wären oder irgendetwas anderes unternommen hätten, aber ich glaube, dass keiner von ihnen jemals wirklich in einer solchen Situation war. Wenn man lediglich als Unbeteiligter zusieht, fallen einem Dinge auf, die man zu dem Zeitpunkt des Geschehens einfach nicht bemerkt. Vielleicht hätte ich mich ja ebenfalls anders entschieden, wenn ich dies alles nur gelesen oder berichtet bekommen hätte, doch in der Position desjenigen, der die richtige Entscheidung zu treffen hatte, erschien mir eine richtige Wahl unmöglich.

Ich hätte mich gerne jemand anderem anvertraut und eine andere Meinung zu der Sache gehört, das Problem war jedoch, dass ich keinen hatte. Louis war, verständlicherweise, immer noch wütend auf mich. Außerdem glaubte ich kaum, dass ein Außenstehender wirklich beurteilen konnte, was ich zu tun hatte. Sie hatten nicht miterlebt, was passiert war. Sie hatten diese Menschen nicht gesehen, die Amara verfolgt hatten.

Doch was brachte das ganze Grübeln? Auf eine sinnvolle Antwort würde ich so oder so nicht kommen. Ich hatte andere Dinge zu erledigen, denn durch die ganze Geschichte mit Amara waren alle anderen Probleme meines Lebens in den Hintergrund gerückt worden. Vielleicht würde mir eine Ablenkung ja sogar guttun?

Eine Sache, die mein Gewissen immer noch plagte, war der Streit mit Louis. Vermutlich war nun der richtige Zeitpunkt für einen erneuten Versöhnungsversuch gekommen, denn mehr als schiefgehen, konnte es so oder so nicht.

Ein Blick auf die tickende Uhr über der Küchentür sagte mir, dass er gleich Pause haben würde und ich sprang auf. Ich wollte ihn abfangen, bevor er möglicherweise für seine Pause nach draußen ging.

Demnach sprintete ich die Treppe hinunter und hatte Glück: ich erwischte Louis, als er gerade in der Tür stand.

"Louis!", rief ich ihm zu und der Kopf des Braunhaarigen schoss herum, während mich seine blauen Augen argwöhnisch musterten.

"Harry", grüßte er knapp, nickte mir zu und wollte sich erneut der Tür zuwenden, doch ich hielt ihn auf.

"Ich würde gern reden ..."

Er sah mich noch einmal prüfend an, bis er seufzte, die Tür wieder schloss und eine Hand in die Seite stemmte.

"Schön, dann sag mir, was du zu sagen hast", meinte er schlecht gelaunt, aber ich schüttelte den Kopf.

"Willst du mit nach oben kommen?", lud ich ihn ein.

"Ich weiß nicht, ob das nötig ist", erwiderte er, doch ich hatte mich schon auf den Weg gemacht und wartete darauf, dass er mir folgte.

"Es kann nicht schaden" antworte ich noch, woraufhin mir mein bester Freund zu meiner Wohnung folgte. Nun durfte ich es lediglich nicht wieder verhauen ...

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now