15. Zufall?

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"Ich fand, dass es eine außergewöhnlich große Anzahl von Zufällen war. Eine so große Anzahl, dass man sich die Frage stellte, ob es sich dabei wirklich noch um Zufälle handelte ..."

*****

"Lassen Sie uns in Ruhe", sagte ich mutig zu dem Mann vor uns, aber wie erwartet, brachte dies nichts.

"Unsere Freunde holen uns in jedem Moment hier ab", redete ich weiter. Es war eine Lüge, doch ich hatte die winzige Hoffnung, dass er sie glauben und uns in Frieden lassen würde.

Natürlich brachte auch das genau nichts, er ignorierte es ganz einfach.

"Ich schlage vor, dass ihr jetzt ohne Protest mit mir kommt. Wenn auch nur einer von euch zu rufen anfängt ...", zischte der Mann.

Ich schluckte schwer, während sich Amara nur noch fester an meinen Arm klammerte.

"Okay", meinte ich mit heiserer Stimme und blickte auf das Messer, das er mir in die Seite bohrte. Wenigstens war es keine Schusswaffe. Jedoch konnte auch ein Messer wie dieses ordentlich verletzen.

"Er ist es", wisperte Amara so leise, dass selbst ich es kaum verstehen konnte. "Wir müssen weg von hier!"

"Ich weiß", flüsterte ich zurück und sah mich nach einem Ausweg um. Es gab nicht viel, was wir machen konnten, denn er würde mir das Messer in den Bauch rammen, wenn ich auch nur einen einzigen falschen Schritt machte. Natürlich hätte ich sagen können, Amara solle rennen, woraufhin er mich höchstwahrscheinlich getötet hatte, aber dafür war ich einfach nicht bereit. Ich war keiner der Helden aus den etlichen Filmen, die ich gesehen hatte. Bei dem Gedanken, dass Amara etwas passieren könnte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen und mein Magen drehte sich um, trotzdem konnte ich es einfach nicht. Ich konnte mein Leben nicht einfach so opfern, egal, wie gerne ich es getan hätte. Die Angst hielt mich zurück, die Angst vor dem Tod. Nein, ein Held war ich garantiert nicht, doch ich konnte mich selbst nicht ändern, daher ging ich mit langsamen, bedachten Schritten dorthin, wo er uns hin führte.

Ich wartete auf einen kleinen Moment der Unachtsamkeit, eine einzige Sekunde, in der er abgelenkt war und die wir zu unserem Vorteil nutzen könnten. Und auch, wenn wir so riesiges Pech gehabt hatten, diesem Menschen über den Weg zu laufen, schien es unser Schutzengel gut mit uns zu meinen, denn diese Gelegenheit kam.

In der Ferne waren mit einem Mal Polizeisirenen zu hören, sehr unwahrscheinlich, dass diese wegen uns erklangen, aber es reichte, um den Mann, der uns bedrohte, kurz zögern zu lassen. Einem Impuls folgend, holte ich aus und schlug ihm das Messer aus der Hand, woraufhin ich ihm einen Kinnhaken verpasste, der meine rechte Faust zwar zum Schmerzen brachte, welcher jedoch auch verursachte, dass der Kopf des Mannes nach hinten flog. Seine Waffe schlitterte derweil über den Asphalt der Straße, doch ich sah ihr nicht mehr hinterher sondern packte Amaras Arm und zog sie mit mir.

"Renn!", schrie ich ihr zu, was allerdings nicht nötig gewesen wäre, denn auch ohne meine Aufforderung sprintete sie neben mir her, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, während ihre Haare wie eine blonde Fahne hinter ihr her wehten.

"Verfolgt er uns?!", rief sie panisch und warf einen Blick über ihre Schulter.

Wir rasten durch enge Seitengassen und schmale Wege, möglichst viele Haken schlagend, um unseren potentiellen Verfolger zu verwirren.

"Ich glaube kaum", keuchte ich irgendwann, "er hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass seine Opfer sich wehren könnten."

Hechelnd wurde ich ein wenig langsamer, so lange und schnell war ich seit mindestens einem Jahr nicht mehr gerannt, und auch Amara verlangsamte schließlich.

"Zeig mir mal deine Hand", forderte sie mich auf, nachdem ich keuchend zum Stehen gekommen war.

Jetzt, wo ich nicht mehr durch meine Angst abgelenkt war, merkte ich das warme Pochen darin viel deutlicher als zuvor.

"Ich bin nicht der Typ für Schlägereien", fluchte ich und begutachtete die Stelle, an der meine Hand das Kinn des Mannes getroffen hatte, was jedoch in der Dunkelheit ziemlich sinnlos war. Also trat ich einige Schritte weiter nach vorne, um mich in das Licht einer Straßenlaterne zu stellen.

"Fuck", murmelte ich leise, als ich die schon gerötete Stelle sah. "Das ist bestimmt irgendwie geprellt."

Amara war nun wieder neben mir, sie nahm meine Hand vorsichtig in ihre eigenen, kleineren Hände und musterte sie genau.

"Du hast die Kreuzkette an, nicht?", sagte die dann, es war weniger eine Frage als eine Aussage.

Benommen nickte ich. Seit sie sie mir geschenkt hatte, hatte ich sie kaum jemals abgelegt.

"Ein Glück", meinte sie dann erleichtert. "Sie schützt dich. Er hat nicht auf dich übergreifen können."

"Auf mich übergreifen?", hinterfragte ich verwundert und versuchte derweil, meine Finger nacheinander zu bewegen. Es tat weh, allerdings nicht so sehr, dass ich befürchten musste, mir etwas gebrochen zu haben.

"Ja", antwortete die Blonde und nickte. "Bei einer Berührung mit dem besessenen Körper kann es dazu kommen, dass er auf dich übergreift. Aber wie gesagt, das Kreuz hat dich geschützt."

Ich nickte, obwohl ich nicht allzu viel von dem nachvollziehen konnte, was sie sagte. Jedoch beschäftigte mich eine andere Sache viel mehr: Dieser Mann hatte es ganz eindeutig auf meine Freundin abgesehen gehabt. Dass so viele verdächtige Menschen in einer so kurzen Zeit zu ihr gekommen waren, gab mir zu denken. Konnte es sein, dass sie wirklich Recht hatte?

Natürlich hätte man all dies auch irgendwie anders erklären können, jedoch war es schon eine sehr große Ansammlung von Zufällen, wie ich fand. Dies ließ die Vermutung nahe, dass es sich bei den Vorkommnissen wirklich um etwas anderes handelte.

Nachdenklich musterte ich Amara. Ich sah in ihre wunderschönen, blauen Augen. Erkannte ihre weichen Gesichtszüge und die Besorgnis, die sich darin widerspiegelte.

Ich hatte mir vor einiger Zeit vorgenommen gehabt, bei einem weiteren Vorfall zu professioneller Hilfe zu gehen, vielleicht zu einem Psychologen, doch nun war ich verunsichert. Denn handelte es sich hierbei wirklich nur um eine Einbildung ihrer Fantasie? Oder gab es da noch etwas anderes, was es möglicherweise auf sie abgesehen hatte?

Noch einmal blickte ich in ihre Augen. Wer von uns beiden hatte Recht? Bildete sie sich dies alles wirklich nur ein?

Oder war möglicherweise ich es, der die Augen vor der Gefahr verschloss und etwas nicht wahrhaben wollte?

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now