20. Die Lösung des Rätsels

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"Ich kann nicht aufhören, mir Vorwürfe zu machen. Dieser Tag verfolgt mich immer noch in meinen Albträumen. Denn er sorgte dafür, dass sich alles änderte. Und dies nur, weil ich ebenfalls von einem Gedanken besessen war. Einer Idee, die nicht mehr aus meinem Kopf gehen wollte ..."

*****

Es war schon das zweite Mal in wenigen Wochen, dass ich mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Straßen fuhr, ohne den Verkehrsregeln sonderlich viel Beachtung zu schenken. Meine Hände zitterten immer noch leicht, was mir das Fahren erschwerte, jedoch schaffte ich es, ohne größere Komplikationen bei der Brücke anzukommen, die Amara und ich als Treffpunkt ausgemacht hatten. Sie lag etwas außerhalb der Stadt, war ziemlich hoch und unter ihr rauschte das Wasser wild und ungebändigt. In weniger als einem Kilometer würde es einen Wasserfall erreichen. Somit brauchten wir nicht zu befürchten, dass irgendjemand uns von dort aus belauschen konnte, denn dort unten gab es außer scharfen Felskanten und strömendem Wasser nicht viel. Wir wollten uns nicht bei Zayn treffen, aus Angst, dass wir somit ihr Versteck verraten würden.

Ich erkannte sie schon, als ich mein Auto zum Stehen brachte. Mit hochgezogenen Schultern blickte sie auf die reißende Strömung herunter, die Hände in den Jackentaschen, um sie vor dem kalten Wind, der aufgekommen war, zu schützen, während ihre Haare wild um sie herumwirbelten. Sie fuhr herum, als sie mein Auto hörte und starrte unablässig in meine Richtung.

Erst beim Aussteigen fiel mir auf, dass ich mich in der Eile nicht einmal angeschnallt hatte. Hastig schlug ich die Tür zu und machte mich dann mit schnellen Schritten auf den Weg zu ihr.

"Harry!", rief sie erleichtert. "Was für ein Glück, dir ist nichts passiert!"

Sie rannte auf mich zu und fiel mir erleichtert um den Hals.

"Ich hatte solche Angst um dich", murmelte sie und vergrub ihren Kopf kurz in meiner Jacke, bevor sie wieder auf und mir in die Augen sah.

Erleichtert blickte ich sie ebenfalls an. Ich sah ihre himmelblauen Augen. Und dann, ohne, dass einer von uns später sagen konnte, wie genau es passiert war, küssten wir uns. Es war ein Kuss der Erleichterung. Wir hatten beide schreckliche Angst gehabt und nun schien es, wie wenn wir endlich eine Erlösung gefunden hatten.

Ich hatte in ihr jemanden gefunden, der mein Schicksal teilte, der mich verstand und der mir glaubte. Jemanden, dem ich vertrauen konnte, der für mich da war. Ein Mädchen mit hellblonden Haaren und himmelblauen Augen, dass ein wohliges Gefühl in mir auslöste, wenn ich sie sah.

Wir lösten uns voneinander und sahen uns leicht verwirrt an. Vermutlich hatte keiner von uns diese Situation geplant oder erwartet. Einem inneren Drang folgend, legte ich meine Lippen erneut auf ihre.

"Wieso auch du?", fragte Amara dann und sah mich nachdenklich an. "Wieso kommt er zu dir?"

"Er will dich, nicht wahr?", gab ich ihr die Antwort. "Und durch mich bekommt er dich."

Für einen Bruchteil der Sekunde weiteten sich ihre Augen erschrocken, doch dann nickte sie leicht.

"Vermutlich hast du Recht", stimmte sie zu. "Oh Gott, du hast vermutlich Recht ..."

Wieder vergrub sie ihren Kopf in meiner Jacke. Beruhigend strich ich ihr über die Haare, obwohl ich wusste, dass ich nichts an dieser Situation ändern konnte. Es stand nicht in meiner Macht, ihr zu helfen.

Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke und ich richtete mich ruckartig ein wenig mehr auf, sodass sie mich verwundert anblickte.

Ich sah in ihre perfekten Gesichtszüge, ihre Schönheit, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Ihre Augen, die zu blau waren. Ihre Haare, die zu außergewöhnlich schienen. Es wurde mir klar. Es musste einfach so sein.

"Du bist ein Engel", flüsterte ich.

Verwundert legte sie den Kopf schief.

"Deswegen will er dich", erklärte ich ihr. "Du bist ein Engel."

Mit geweiteten Augen blickte sie mich an.

Im Nachhinein kommt mir diese Theorie einfach nur lächerlich vor. Ich war geblendet von der Liebe, ich konnte nicht klar denken. Jedoch erschien mir die Tatsache, dass sie etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches war, zu diesem Zeitpunkt die einzige Erklärung für all diese Vorfälle zu sein.

"Meinst du wirklich?", fragte sie nach und ich nickte hektisch mit dem Kopf, worauf meine Locken wild auf und ab zu wippen begannen.

"Es muss so sein!", rief ich aus. "Wieso sonst sollte er dich verfolgen?"

In ihrem Blick lag ein nachdenklicher Ausdruck.

"Aber ich ... ich müsste es doch irgendwie spüren, nicht? Aber ich fühle mich ... vollkommen normal. Ich glaube nicht, dass ich etwas wie ein Engel sein könnte!"

Ich umfasste ihre Schultern und drehte sie so zu mir, dass wir uns direkt in die Augen sahen.

"Amara, du bist besonders! Du bist das außergewöhnlichste Mädchen, das mir je begegnet ist! Und er weiß es. Er weiß es auch. Möglicherweise kannst du dich einfach selbst nicht mehr daran erinnern! Es könnte doch sein, dass du deine Vergangenheit einfach vergessen hast!"

Immer noch nachdenklich kratzte sie sich am Kopf und starrte hinter mich in die endlosen Weiten der Wälder, die Fluss und Brücke umgaben.

"Aber meine Vergangenheit ... ich habe bisher ganz einfach mein Leben gelebt!", wisperte sie.

"Du bist gefallen", flüsterte ich zurück. Es schien für mich gar keine andere Erklärung mehr zu geben. "Und nun jagt er dich, weil du nicht zurück kannst. Besser gesagt: weil du nicht weißt, wie du zurück kannst!"

Abwartend musterte ich sie, während sie zu überlegen schien.
"Und du meinst das wirklich ...?"

"Ja", bestätigte ich mit Nachdruck.

"Also ist die Lösung des Rätsels, dass ich irgendwie ..."

"Dass du irgendwie zurück kommst, ja", ergänzte ich. "Er wird dich nicht mehr verfolgen können."

Sehnsüchtig warf sie mir einen Blick zu. "Aber wenn ich zurück gehe, wirst du nicht mitkommen können, nicht wahr?", fragte sie leise.

"Nein", murmelte ich traurig. "Nein, ich werde hier bleiben müssen. Ich bin nichts Besonderes. Du bist es!"

Sie trat noch einen Schritt näher an mich heran, sodass ich ihren Atem spüren konnte. Dann legte sie ihr Hand auf mein Herz.

"Du wirst immer etwas Besonderes sein, Harry", wisperte sie. "Wenigstens für mich. Denn du hast ein gutes Herz. Einen Menschen wie dich habe ich noch nie zuvor getroffen."

Engelsgleich || h.s. ✓जहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें