5. Ein guter Mensch?

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"Wann ist man ein guter Mensch? Wer legt es fest? Als sie mir sagte, ich sei einer, war ich erstaunt, weil ich noch nie zuvor darüber nachgedacht hatte ..."

*****

Ich war am nächsten Morgen schon früh wach, trotzdem hatte Amara sich schon angezogen und saß auf der noch ausgezogenen Couch. An den dunklen Ringen unter ihren Augen erkannte ich, dass sie nicht sonderlich viel geschlafen haben konnte.

"Morgen", grüßte ich und nickte ihr zu. "Hast du schon gefrühstückt?"

"Ich sollte nach Hause gehen", sagte sie sofort, ohne auf meine Frage einzugehen,  "ich mache dir schon viel zu viele Umstände."

Obwohl ich abwinkte, sprang sie auf.

"Soll ich dir beim Aufräumen helfen?", fragte sie und machte eine ausladende Handbewegung, die das Sofa und das Bettzeug darauf einschloss.

"Ach was", murmelte ich. "Darf ich dich wenigstens fahren? Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du ganz allein nach Hause kommen musst. Wer weiß, ob er weg ist?"

"Du solltest dir die Mühe wirklich nicht machen!", protestierte sie, aber ich war schon zur Garderobe gegangen, hatte meine Jacke genommen und streifte mir diese nun über. Meine Eltern waren mittlerweile wahrscheinlich wieder da und das Auto somit auch.

"Komm", meinte ich, schlüpfte in meine Schuhe und tastete in der Tasche nach meinem Autoschlüssel. Er war noch an seinem Platz, weshalb ich nicht lange suchen musste.

Auch sie zog sich Jacke und Schuhe an, folgte mir nach draußen und setzte sich auf den Beifahrersitz.

"Du sagst, wohin ich fahren soll", grinste ich und startete den Motor.

Amara wohnte in einem großen Mehrfamilienhaus, was einmal gelb gestrichen worden, dessen Farbe aber schon lange ausgeblichen war. Als ich vor genau diesem hielt und den Motor abschaltete, bedankte sie sich und wollte schon aussteigen, doch ich hielt sie noch einmal zurück.

"Was ist, wenn er dich hier findet?", fragte ich sie besorgt. Auf der Fahrt hatte ich sorgsam darauf geachtet, dass uns keiner verfolgte, trotzdem konnten wir natürlich beobachtet worden sein.

Als sie keine Antwort gab, fuhr ich mir durch das Gesicht, überlegte kurz und sah ihr danach in die himmelblauen Augen.

"Hast du was zum Schreiben? Oder dein Handy? Damit du mich im Notfall anrufen könntest."

Es klang wie eine lächerliche Anmache, aber wir beide wussten, dass es nicht so gemeint war. Es war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme.

"Harry." Langsam sprach sie meinen Namen aus. "Das kann ich nicht. Ich kann dich nicht in etwas mit hineinziehen, womit du nichts zu tun hast!"

"Ich kann für mich selbst entscheiden", erklärte ich und suchte Blickkontakt mit ihr. "Und du warst nicht die Einzige, die heute Nacht kaum geschlafen hat. Ich habe mir Gedanken gemacht und beschlossen, dass ich das nicht einfach so ignorieren kann! Ich kann niemanden einfach so im Stich lassen!"

Sie zögerte einige, endlos lange Sekunden, bis sie schließlich nachgab und mir ihr Handy reichte.

"Du bist ein guter Mensch, Harry", stellte sie fest und ich zog einen Mundwinkel hoch.

"Du kennst mich nicht einmal", erwiderte ich und tippte derweil meine Nummer ein. "Wer weiß, was ich sonst noch in meiner Freizeit mache?"

Ich grinste sie an, reichte ihr das Handy wieder und sie zog eine Augenbraue hoch.

"Du kannst nicht böse sein. Sonst hättest du mich schon längst im Stich gelassen."

Ich lächelte sie noch einmal an, während sie die Tür öffnete und ausstieg.

"Ich komme darauf zurück, Amara! Wenn ich ein paar Leute getötet habe, reden wir weiter", rief ich ihr spaßhaft zu, woraufhin sie mir nur einen Vogel zeigte.

"Wer's glaubt wird selig!"

Damit öffnete sie die Tür des Hauses und verschwand. Ich startete das Auto und fuhr langsam zurück. Manche hätten sich vielleicht gefragt, wie wir in einer solchen Situation noch scherzen konnten, eine Frage, die ich mir selbst stellte, aber vermutlich lag es daran, dass wir unsere Sorgen irgendwie verdrängen wollten. Dass wir in irgendeiner Weise auf andere Gedanken kommen wollten.

Dass ich vielleicht doch kein solcher Engel war, wie Amara behauptet hatte, merkte ich, als ich zu Hause ankam und einen wütenden Blick seitens Louis erntete. Daneben mein nicht minder wütender Vater, der, die Arme verschränkt, an einem Tisch lehnte und darauf wartete, dass ich auftauchte.

"Du hast mir gesagt, dass du den Rest machst!", beschwerte sich Louis sogleich und ich blickte entsetzt erst auf ihn, dann auf meinen Vater.

"Oh Scheiße", murmelte ich verlegen. In der ganzen Aufregung gestern hatte ich doch tatsächlich vergessen, dass ich mich zum Aufräumen bereiterklärt hatte.

"Es ist mir vollkommen egal, wer von euch beiden was nicht gemacht hat, Fakt ist, dass es hier wie in einem Saustall aussah, als ich heute Morgen die Tür geöffnet habe!", grummelte mein Vater und bedachte mich mit einem weiteren verärgerten Blick.

"Ich musste mich um eine Kundin kümmern", versuchte ich ihm zu erklären. "Sie behauptete, verfolgt zu werden, ich habe sie nach Hause gebracht!"

Mein Vater schnaubte. "Erzähl mir doch keinen Scheiß!"

"Und außerdem sieht es hier doch nicht wie in einem Saustall aus!", protestierte ich. "Es war ja nicht mehr viel zu machen!"

"Und deshalb frage ich mich nur noch mehr, warum zum Teufel ihr es nicht gemacht habt?!", brummte mein Vater. "Das heißt erst mal Abwasch für euch beide."

Als wir uns nicht bewegten, setzte er noch ein 'jetzt' dahinter, woraufhin Louis sich wütend auf den Weg in die Küche machte.

"Herzlichen Dank, Harry", fuhr er mich an, als wir außer Hörweite waren. "Ich dachte, du wolltest dich darum kümmern?"

Noch einmal versuchte ich, ihm mein Erlebnis zu erklären.

"Das Mädchen mit den blonden Haaren, das was jeden Tag gekommen ist, sie wird verfolgt!", redete ich los. "Denkst du, ich lasse sie da einfach alleine gehen? Sie war fast verrückt vor Angst!"

Mein Freund schüttelte nur den Kopf und schnappte sich mit einer viel zu festen Bewegung ein Geschirrtuch, woraufhin er eine der großen Spülmaschinen öffnete und mit dem Abtrocknen anfing.

"Es reicht langsam", warnte er mich. "Du hast es vergessen, na schön. Aber hör endlich auf, mir noch irgendwelche Lügen aufzutischen. Darauf habe ich jetzt echt keinen Bock!"

"Louis, ich ...", begann ich, aber er unterbrach mich erneut.

"Gestern war schon schlimm genug, also lass es einfach!"

Sofort wurde ich aufmerksam, während ich mir ebenfalls ein Geschirrtuch und einen Teller schnappte.

"Was ist passiert?"

Er biss sich auf die Lippe. "Wir haben uns getrennt."

Fassungslos sah ich ihn an. "Oh nein, Lou, das tut mir leid", murmelte ich, ehrlich betroffen. Ich wusste, wie sehr er an seiner Beziehung mit Eleanor gehangen hatte.

Um nicht auch noch Salz in die Wunde zu streuen, schwieg ich erst einmal und konzentrierte mich ganz auf meine Arbeit.

"Schon okay. Ich vergebe dir übrigens", meinte er und zwinkerte mir halbherzig zu. Als ich ihn fragend ansah, musste er trotz allem kichern.

"Dafür, dass du das Aufräumen vergessen hast. Aber dafür habe ich was gut bei dir!"

"Klar", grinste ich zurück. Allerdings war ich etwas enttäuscht, weil sie mir einfach nicht glauben wollten! Doch vielleicht war es ja sogar gut so, denn ich wollte nicht noch mehr Personen mit einem Problem belasten, das keiner von uns lösen konnte.

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now