21. Was wir nun tun sollten

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"Ich kann Ihnen den Zettel sogar zeigen. Er befindet sich direkt hier in meiner Hosentasche. Seltsam, dass die kleinsten Dinge die größten Auswirkungen haben können ..."

*****

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nur ungern wollte ich alleine in meine Wohnung zurückkehren, der Schock saß mir noch zu tief in den Knochen.

Zudem gefiel mir der Gedanke ebenfalls nicht, Amara alleine zu lassen. Vor allem nicht, da ich ihr von der Drohung erzählt hatte. Was sollte sie bedeuten? Dass wir möglicherweise nur noch weniger als 24 Stunden Zeit hatten, bevor er kommen würde? Doch ich erinnerte mich daran, dass auf der Nachricht etwas anderes gestanden hatte.

Wir kommen morgen

Waren es etwa mehrere? Wie um alles in der Welt sollten wir uns gegen mehrere Angreifer gleichzeitig verteidigen können? Und das lediglich zu zweit?

Es musste eine Lösung geben. Die beste wäre gewesen, wenn wir in der kurzen Zeit herausgefunden hätten, wie sie zurückkehren konnte. Allerdings hatten wir dafür nicht den geringsten Anhaltspunkt und noch dazu kaum Zeit.

"Es muss doch einen Ausweg geben", murmelte ich leise. Wir hatten uns in mein Auto gesetzt, da es draußen immer stürmischer geworden war. "Irgendwie musst du zurückkehren ..."

Sie blickte hinaus zu den Bäumen, die sich im Wind sanft hin und her wiegten.

"Und was ist, wenn ich nicht zurück will?", fragte sie dann leise. "Ich kann mich an nichts davon erinnern. Wir wissen nicht einmal, ob deine Theorie wirklich stimmt. Und ..."

Sie zögerte und sah zu mir. "... ich will nicht ohne dich gehen. Ich will bei dir bleiben!"

Vorsichtig nahm ich ihre Hände in meine.

"Dafür werden wir eine Lösung finden, Amara", beruhigte ich sie. "Aber du kannst nicht länger hier bleiben. Es ist einfach zu gefährlich! Er wird morgen kommen und selbst, wenn er dich dann nicht bekommt, wird er keine Ruhe geben. Er hat es auf dich abgesehen! Du wirst niemals in Frieden leben können."

"Und ich ziehe dich dort hinein", murmelte sie bitter.

"Nein", beteuerte ich, "es ist immer noch meine eigene Entscheidung. Wenn ich hätte gehen wollen, hätte ich das schon lange zuvor getan. Aber ich habe mich dazu entschieden, hier zu bleiben. Bei dir."

Nervös nickte sie und spielte mit einer ihr ins Gesicht gefallenen Strähne herum.

"Was sollen wir jetzt machen?", fragte ich schließlich und schluckte einmal. Ich war völlig ratlos.

"Ich weiß nicht", meinte auch das Mädchen und zuckte mit den Achseln. "Wir haben weder irgendwelche Hinweise, noch sonst etwas ..."

Kurz sah ich überlegend aus dem Fenster.

"Wir sollten zu mir", sprach ich dann meinen Gedanken aus. "Vielleicht gibt es bei dem Zettel noch irgendwelche Hinweise?"

"Das können wir nicht machen!", widersprach mir Amara und schüttelte panisch mit dem Kopf. "Das können wir wirklich nicht machen! Er weiß, wo du wohnst, es gibt keine weiteren Auswege dort!"

"Wir müssen eben Risiken eingehen, um ein Rätsel zu lösen", erklärte ich, griff nach hinten und zog den Sicherheitsgurt nach vorne, um mich anzuschnallen.

"Harry, nein!", rief sie ängstlich. "Dort wird er uns finden!"

"Ich bin bei dir", beruhigte ich sie und strich ihr mit dem Daumen sanft über den Handrücken. "Es wird alles gut gehen. Er wird uns nicht finden. Nicht jetzt."

Meine Stimme klang mutiger und zuversichtlicher, als ich mich selbst fühlte. Jedoch schien diese wenigstens den gewünschten Effekt zu haben, denn sie seufzte letztendlich, während sie nervös auf ihrer Wange herumkaute.

"Muss es sein?", fragte sie noch einmal.

"Vielleicht ist es unsere einzige Möglichkeit!", hielt ich dagegen. Noch eine Sekunde überlegte sie, bevor sie schließlich nickte.

"Nun gut. Dann fahr los."

Einerseits erleichtert, da sie meinen Vorschlag angenommen hatte, andererseits auch ein wenig ängstlich vor dem Bevorstehenden, drehte ich den Schlüssel im Zündschloss um und gab langsam Gas.

"Wir werden das schaffen!", murmelte ich, um uns beiden Mut zuzusprechen.

"Hier ist die Nachricht", meinte ich und deutete auf den Klebezettel, obgleich sie diesen garantiert schon gesehen hatte.

Vorsichtig trat sie einen Schritt näher an meine Eingangstür heran und begutachtete das handgeschriebene Stück Papier sorgsam.

"Kommt dir die Handschrift bekannt vor?", fragte ich sie dann, doch zu meiner Enttäuschung schüttelte sie den Kopf.

"Das muss allerdings nichts bedeuten", erklärte sie. "Es könnte praktisch jeder geschrieben haben."

"Stimmt", pflichtete ich ihr bei und streckte langsam meine Hand aus, um den Klebezettel von seinem Platz an meiner Tür zu nehmen und in meiner Hand langsam hin und her zu bewegen. Doch außer den wenigen Worten war nichts darauf zu finden.

"Verdammt", fluchte ich leise. Ich hatte keine Ahnung, was ich von dem Abstecher zu meiner Wohnung erwartet hatte, vielleicht, dass wir einen plötzlichen Geistesblitz bekommen würden, jedoch war dem nicht so. Immer noch vollkommen ratlos, starrte ich auf das kleine Papier.

"Harry!", rief plötzlich jemand und ich fuhr erschrocken herum, nur, um meinen besten Freund Louis zu sehen, der fröhlich die Treppen nach oben sprang, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend.

"Da bist du ja!", meinte er, ein wenig außer Atem und kam vor uns zum Stehen.

"Und du bist Amara, nicht wahr?", fragte er meine Freundin dann, setzte ein herzliches Lächeln auf und streckte die Hand aus, um sie zu begrüßen. Er schien außergewöhnlich gut gelaunt zu sein.

"Hast du gerade im Lotto gewonnen?", murmelte ich deshalb und ließ die Botschaft unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden, um ihn nicht darauf aufmerksam zu machen und möglicherweise dadurch mit neugierigen Fragen durchlöchert zu werden, die lediglich einen weiteren Streit provoziert hätten.

"Ich hatte gestern eine Verabredung mit Yuki", grinste er und ich zog eine Augenbraue hoch.

"Yuki?", hinterfragte ich und er nickte überschwänglich.

"Meine Freundin", erklärte er uns dann und ich musste trotz allem lächeln. Er hatte also wieder jemanden gefunden!

"Coole Sache", sagte ich und freute mich ehrlich für meinen besten Freund.

"Ich weiß", antwortete dieser, immer noch grinsend und legte dann fragend den Kopf schief.

"Wie sieht es aus? Habt ihr Lust mit zu mir zu kommen? Ich kann für uns vier kochen ..."

Unsicher schielte ich zu Amara, welche mich genauso ratlos anstarrte und darauf wartete, dass ich etwas erwiderte.

"Okay", stimmte ich schließlich zu und nickte.

Wenn wir bei ihm waren, war die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passieren würde, eindeutig geringer. Hier fanden wir ohnehin keine Hinweise mehr. Vielleicht hatte ich ja sogar die Hoffnung gehabt, dass etwas passieren und mein Freund mir endlich glauben würde. Ich würde Recht behalten. Es würde etwas passieren. Doch schon wieder wird mir bewusst, dass ich mit meinen Hoffnungen und Wünschen vorsichtiger hätte sein sollen ...

Engelsgleich || h.s. ✓Onde histórias criam vida. Descubra agora