7. Der Teufel ist ein Eichhörnchen

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"Als ich sie erblickte, war ich erstaunt. Niemals wäre ich darauf gekommen, sie mir so vorzustellen ..."

*****

Die Ampel war rot. Es kümmerte mich nicht, trotzdem drückte ich aufs Gas und brauste weiter. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was war passiert? War ihr Verfolger zu ihr gekommen? Es musste ja so sein, wieso sonst sollte sie mich um Hilfe bitten?

In meiner Eile nahm ich einem hupenden VW die Vorfahrt und wäre fast mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Normalerweise wäre ich nie so gefahren, aber dies war kein normaler Tag. Im Zweifel zählte jede einzelne Sekunde!

Ich hatte beschlossen, vorerst bei ihrer Wohnung vorbeizufahren, weil ich keinen anderen Anhaltspunkt hatte. Während der Fahrt betete ich durchgängig darum, dass ihr nichts zugestoßen war. Es durfte einfach nicht sein! Nicht Amara! Nicht ihr!

Louis rief mich an. Ich nahm nicht ab sondern ignorierte den Anruf, während ich ruckartig in eine Seitenstraße abbog und mich an den Weg zu erinnern versuchte. Waren wir jetzt schon links abgebogen oder erst eine Straße später?

Noch einmal versuchte Louis mich zu erreichen, ich ignorierte ihn erneut. Auch die darauf folgenden Nachrichten las ich mir nicht durch, obwohl ich wusste, dass er mir dies garantiert übel nehmen würde und ich auch von meinen Eltern eine heftige Standpauke zu erwarten hatte, wenn ich nach Hause kam. Vorausgesetzt, ich kam überhaupt wieder nach Hause ...

In meiner Eile hatte ich natürlich keine Waffe mitgenommen, mit der ich mich notfalls hätte verteidigen können. Jetzt war es jedoch zu spät, denn ich konnte das große Haus, in dem Amara wohnte, schon erkennen. Unfassbar, dass ich den Weg also wirklich gefunden hatte!

Noch einmal gab ich Gas, stellte den Wagen unmittelbar vor dem Eingang ab und sprang hinaus. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich in das Gebäude gelangen konnte. Die Tür war selbstverständlich von außen nicht zu öffnen und natürlich konnte ich nicht einfach bei Amara klingeln, wenn womöglich ein Verbrecher soeben in ihrer Wohnung war. Jedoch konnte ich an den Klingelschildern wenigstens erkennen, dass sie im dritten Stock wohnte.

Einem plötzlichen Einfall folgend, klingelte ich zwei Stockwerke weiter oben.

"Hallo?", erklang die Stimme einer Frau, die noch nicht sehr alt zu sein schien und ich trat näher an die Gegensprechanlage heran.

"Ich bin der Techniker", log ich, es war das Erste, was mir einfiel. "Ich müsste etwas nachschauen, könnten Sie mir die Tür öffnen?"

"Natürlich", kam es von ihr und kurz darauf hörte ich das Summen, welches bedeutete, dass die Tür geöffnet worden war. Wie leichtgläubig die Menschen mittlerweile geworden waren! Kein Wunder, dass Amaras Stalker sich so einfach Zutritt zur Wohnung hatte verschaffen können, wenn die Nachbarn so unaufmerksam waren! Aber nun war es mein Glück.

Hastig stieg ich die Treppen nach oben, immer zwei oder drei auf einmal nehmend. Kurz vor dem dritten Stock wurde ich langsamer, ich wollte keine auffälligen Geräusche machen. Doch als ich ankam, sah ich sofort, dass die Tür nur angelehnt war. Verfluchte Scheiße, er war also wirklich da! Zwar hatte ich schon vorher damit gerechnet, trotzdem hatte ein winziges Fünkchen Hoffnung in mir bestanden, dass es vielleicht doch nicht so war.

Noch einmal suchte ich meine Taschen nach einer Waffe ab, fand aber außer meinem Schlüsselbund und einer Packung Taschentücher nichts. Also stieß ich die Tür unbewaffnet auf.

Das leise Murmeln von Stimmen erreichte mich sofort. Es drang aus dem Raum, der sich geradeaus vor mir befand. Vorsichtig schlich ich mich weiter, während ich darum betete, dass sie unverletzt war.

Als die Tür nur noch etwa einen Meter weit von mir entfernt war, zögerte ich einen kurzen Moment. Theoretisch musste ich dies alles hier nicht tun. Ich konnte mich genauso gut umdrehen, wieder verschwinden und die ganze Sache vergessen, wie wenn nie etwas geschehen wäre. Doch das konnte ich nicht! So war ich einfach nicht!

Somit holte ich einmal tief Luft, versuchte mich zu konzentrieren und trat durch die Tür.

Der Anblick, der sich mir nun bot, schockte und überraschte mich gleichermaßen. Amara saß zusammengekauert in einer Ecke und weinte bitterlich, während vor ihr eine Frau mittleren Alters stand.

Seltsam, in all meinen Vorstellungen war Amaras Verfolger ein Mann gewesen, groß gewachsen, tätowiert, muskulös, Angst einflößend. Niemals hatte ich bei der Vorstellung eines Stalkers auch nur ansatzweise an die zierliche, rothaarige Frau mit halbhohen Schuhen, einer eng anliegenden, grauen Jeans und einer grünen Bluse gedacht, die ich nun erblickte. Perplex starrte ich sie an.

"Harry", hörte ich Amara meinen Namen flüstern, was mich dazu brachte, zu ihr herumzufahren und mich wieder an den Grund zu erinnern, wieso ich hier war.

Mit einem schnellen Schritt ging ich auf die Frau zu, die das Mädchen bedrohte und griff nach ihren Armen, um diese mit aller Kraft festzuhalten. Sie strampelte und versuchte mich zu treten, jedoch war sie nicht ansatzweise so stark, wie ich mir vorgestellt hatte. Noch dazu schien sie vollkommen überrascht zu sein, dass ich sie festhielt.

"Für wen halten Sie sich eigentlich?!", motzte sie mich an und wandte sich in meinem Griff. "Lassen Sie mich gehen!"

Ich verstärkte meinen Griff lediglich.

"Ich schreie um Hilfe!", warnte sie mich, worauf ich schnaubte.

"Ich glaube nicht, dass Sie in der Position zum Hilferufen sind", grummelte ich. "Es kann bestimmt nicht in Ihrem Interesse sein, dass die Polizei hier auftaucht."

"Oh doch", schnauzte mich die Rothaarige an, "und ich warne Sie ..."

"Ich würde vorschlagen, dass Sie dieses Haus verlassen und sich nie wieder in Amaras Nähe blicken lassen", knurrte ich ihr zu. Natürlich wäre mir die Polizei lieber gewesen, jedoch erinnerte ich mich an Amaras Wunsch, diese nicht einzuschalten, den ich, jedenfalls vorerst, erfüllen wollte. Sie würde wohl ihre Gründe für diese Bitte haben.

"Ich werde doch wohl in mein Haus gehen dürfen!", protestierte die Frau.

Noch einmal schnaubte ich, bevor ich sie hinaus in den Flur stieß und auf Amaras Eingangstür deutete.

"Daraus", erklärte ich ihr langsam, "werden Sie jetzt gehen. Und wenn ich Sie auch nur noch ein einziges Mal in Amaras Nähe sehe, wird das Konsequenzen haben. Große Konsequenzen. Sie steht unter meinem Schutz."

Natürlich war es nicht gerade sehr gefährlich, wenn ein Kellner, der in seinem Leben noch niemanden ernsthaft verletzt hatte, dies zu einer potentiellen Straftäterin sagte, aber diese musste ja nicht erfahren, wie ungefährlich ich war.

Verängstigt nickte die Frau, stolperte zur Tür, öffnete diese und trat hinaus. Als sie in sicherer Entfernung war, drehte sie sich noch einmal um.

"Ihr seid verrückt. Alle beide!", warf sie mir vor und ich zog eine Augenbraue hoch.

"Ich weiß nicht, was Ihre Definition von verrückt ist, aber für mich passen Sie eher in diese Schublade", gab ich zurück.

Die Rothaarige erwiderte nichts mehr, sondern warf die Tür hinter sich zu und verschwand. Auf mich hatte sie nicht sonderlich beängstigend gewirkt, jedoch konnte ich mich natürlich auch täuschen. Wie man so schön sagte: Der Teufel ist ein Eichhörnchen.

Doch nun erinnerte ich mich an Amara und machte auf dem Absatz kehrt. Ich wollte nachsehen, ob sie unverletzt war.

Engelsgleich || h.s. ✓Donde viven las historias. Descúbrelo ahora