19. Der Umriss eines Mannes

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"Wenn man so lange über eine Sache gegrübelt hat, sieht man sie manchmal in einem anderen Licht und ist schneller bereit, etwas zu glauben ..."

*****

Es war Morgen, als es passierte. Gerade hatte ich in Ruhe gefrühstückt, da ich meinen letzten arbeitsfreien Tag noch einmal genießen wollte. Nun war ich dabei, mein Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Ich wollte gleich hinüber zu Zayn und Amara fahren, daher beeilte ich mich mit meiner Arbeit. Daraufhin zog ich mich an. Beinahe hätte ich mein Handy vergessen, das ich über Nacht ans Ladegerät gehängt hatte. Als ich auch dieses schließlich sicher in meiner Jackentasche verstaut hatte, wollte ich nach draußen gehen. Ich trat zur Wohnungstür, öffnete diese und hielt dann inne. Ich hörte etwas. Geräusche. Es handelte sich um Schritte. Wer konnte das um diese Zeit sein? Meine Mutter hatte ich eben noch durch das Fenster im Garten herumwerkeln sehen können, während mein Vater garantiert im Restaurant arbeitete. Ein verirrter Besucher konnte es zu dieser frühen Uhrzeit wohl ebenfalls schlecht sein, denn wir öffneten erst gegen Mittag. Gemma hingegen war momentan verreist, also fiel auch sie aus der Liste hinaus.

Allerdings erinnerte ich mich an Mums schlechte Angewohnheit, den Schlüssel stecken oder gar die Tür offen zu lassen, wenn sie im Garten war. Demnach konnte quasi jeder hier hinein kommen.

Die Tür ein wenig zu ziehend, wartete ich ab. Ich hatte den Vorteil, dass meine Eingangstür auf der oberen Seite mit Milchglas versehen war, wodurch ich sehen konnte, wenn jemand davor stand.

Es hätte so viele harmlose Möglichkeiten dafür gegeben, wer vor der Tür hätte stehen können, aber vermutlich war es eine Nebenwirkung von den etlichen Stunden, die ich mich mit der Frage beschäftigt hatte, ob Amara wirklich verfolgt wurde, dass ich misstrauischer geworden war.

Als die Schritte näher kamen, schoss ich meine Tür vollends und duckte mich ein wenig, damit man mich durch das Glas nicht sah.

"Mr Styles?", hörte ich eine unbekannte Stimme und ich atmete einmal tief durch. Es gab keine Beweise dafür, dass er mir etwas Böses wollte!

"Mr Styles?", rief die raue Stimme, die einem Mann zu gehören schien, noch einmal und ich zuckte leicht zusammen. Verdammt, was war nur los mit mir?

"Hallo, ist jemand zu Hause?"

Noch einmal musste ich mich beruhigen. Es war nichts geschehen. Nichts. Rein gar nichts.

Es klingelte. Über mir erkannte ich einen Schatten. Er stand unmittelbar vor meiner Tür!

"Die Tür war offen!", rief der Unbekannte erneut. "Hallo?"

Es klingelte nochmals, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, aufzustehen und sie zu öffnen.

Wieso sollte jemand, der mir etwas zuleide tun wollte, an der Wohnungstür klingeln? Aber die Antwort war ganz einfach: er spielte mit mir! Plötzlich war ich mir ganz sicher. Er wusste, dass ich keine Möglichkeit hatte, das Gebäude auf andere Weise zu verlassen. Diese Tür war mein einziger Ausweg.

Vorsichtig kroch ich einige Meter weiter nach vorne, allerdings so geduckt, dass man mich durch das Glas immer noch nicht sehen konnte.

Nun konnte ich die Schemen des Mannes, der vor meiner Tür stand, besser sehen. Laut diesen wirkte er muskulös, denn er hatte ein breites Kreuz.

Meine Hand schnellte zu der Kette, die mir Amara geschenkt hatte. Ich spürte das Kreuz an meinen Fingern. Es würde mich beschützen!

Die Person ging nicht weg. Sie stand ganz einfach vor der Tür und wartete. Eine unmessbar lange Zeit hockte ich dort im Flur und beobachtete den Umriss. Dann fasste ich einen Entschluss und griff nach meinem Handy.

"Amara?", wisperte ich, sobald sie abgenommen hatte.

"Was ist los?", fragte sie besorgt, sie hatte die Angst in meiner Stimme also gehört.

"Er ist hier bei mir", hauchte ich. "Direkt vor meiner Tür!"

Sie schwieg für eine Sekunde.

"Oh verdammt", murmelte sie dann.

"Was soll ich machen?", flüsterte ich hektisch und beobachtete dabei weiter meinen Verfolger. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

"Bist du noch in der Wohnung?", wollte sie wissen.

"Ja", bestätigte ich leise, da die Tür nicht sonderlich schalldicht war und man lautere Gespräche in meinem Flur vom Treppenhaus aus hören konnte.

"Bleib dort", riet sie mir.

"Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig", meinte ich schluckend.

"Was hat er gemacht?", fragte sie dann und ich begann leise zu erzählen:

"Er ist durch die Haustür hinein gekommen, weil Mum die Tür immer offen lässt. Er hat nach einem 'Mr Styles' gefragt und an meiner Haustür geklingelt. Und jetzt wartet er davor, verdammt!"

Meine Stimme war zum Ende hin lauter, höher und panischer geworden, daher presste ich mir nun die noch nicht ganz verheilte Hand vor den Mund, um diesen Fehler nicht zwei Mal hintereinander zu begehen.

"Amara, was ist, wenn er nicht weg geht?", sprach ich dann den Gedanken aus, der mir soeben durch den Kopf gefahren war. "Was ist, wenn er ewig dort stehen bleibt?!"

"Weiß er, dass du da bist?", entgegnete sie.

"Ich hoffe nicht", antwortete ich und warf erneut einen Blick auf den Umriss. "Aber ich kann mich nicht viel bewegen! Wenn ich im Flur weiter zurück gehe, wird er mich erkennen können!"

"Dann bleib genau dort, wo du bist", empfahl sie mir. "Wenn er denkt, dass du nicht da bist, wird er irgendwann gehen."

Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte mich zu beruhigen.

"Jetzt verstehe ich, was du damit meinst, wenn du sagst, dass du weißt, dass er es ist. Ich weiß es auch. Ich weiß, dass er es ist, der vor meiner Tür steht."

Einmal schluckte ich schwer, wollte meinen Blick wieder auf die Silhouette des Unbekannten richten und zuckte erschrocken zusammen.

"Er ist weg!", wisperte ich panisch und ließ meinen Blick auf dem Milchglas. Doch es stimmte, er war tatsächlich verschwunden. Nur wusste ich nicht, ob dies ein gutes Zeichen oder eine Falle war.

Ich glaube, dass ich fast eine halbe Stunde brauchte, bevor ich mich aus dem toten Winkel unter der Tür hinaus traute. Doch er kam nicht wieder, deshalb fasste ich all meinen Mut und öffnete meine Eingangstür vorsichtig. Er war tatsächlich verschwunden. Erleichtert atmete ich auf und drehte mich um, um meine Wohnungstür zu schließen. Ich erstarrte in der Bewegung. Denn unter dem Glas hing ein kleiner, gelber Klebezettel. Mit Kuli stand in einer unordentlichen Handschrift etwas darauf gekritzelt, was ich zuerst nicht lesen konnte, doch als ich es entziffert hatte, wünschte ich mir, ich hätte es niemals getan. Denn dort stand:

Wir kommen morgen

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now