11. Das Silberkreuz

40 6 0
                                    

"Vertrauen. Ein seltsames Wort. Es war so leicht zu sagen und doch hatte es eine so starke Bedeutung. Nicht jeder Mensch ist dazu fähig, anderen zu vertrauen. Und ich bemitleide jeden einzelnen, der es nicht kann."

*****

"Was sollte das denn?", klagte ich vorwerfend und beobachtete Amara, deren Blick aus dem schmalen Küchenfenster gerichtet war.

Noch im selben Moment musste ich mich selbst verfluchen. Sie hatte es ja nicht mit Absicht getan und für meinen Streit mit Louis konnte sie schließlich auch nichts.

"Ich meine", korrigierte ich mich also, "denkst du, dass du von einer ganzen Gruppe verfolgt wirst?"

Nervös lief ich wie ein Tiger im Raum auf und ab und dachte nach.

"Dann müssen wir die Polizei rufen. Wir kommen nicht mit einer ganzen Gang klar!"

Ihr Kopf schoss zu mir herum und sie sprang auf, woraufhin sie zu mir kam und mir direkt in die Augen sah.

"Harry, nein", entgegnete sie.

"Wieso nicht?", erwiderte ich, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

Eine Sekunde lang zögerte, bis sie einmal tief Luft holte.

"Kann ich dir vertrauen?", fragte sie dann und ich nickte.

"Natürlich", erklärte ich sofort.

Immer noch zögerte sie.

"Und vertraust du mir?"

Jetzt war ich es, der erst einmal schwieg. Schließlich erhob ich meine Stimme.

"Du bist quasi eine Fremde für mich ...", begann ich zu protestieren, aber sie fiel mir ins Wort.

"Es ist schwieriger es selbst zu tun, als es von jemandem zu fordern, nicht? Aber noch einmal: vertraust du mir?", fragte sie erneut und ich holte tief Luft.

"Ja", meinte ich dann. Ein einfaches Wort, das so viel Bedeutung haben konnte.

"Gut", murmelte sie und sah sich einmal verstohlen im Zimmer um. Bei dieser Gelegenheit musterte ich sie genauer. Ihre hellblonden, leicht gewellten Haare, ihre himmelblauen Augen, doch mir fielen auch andere Dinge ins Auge, die ich vorher kaum wahrgenommen hatte. Die Kette mit dem filigranen Silberkreuz, die um ihren Hals hing. Der etwas zu große Pulli, der von der Farbe her ihren Augen glich. Das kleine Muttermal an ihrem Hals.

Konnte ich diesem Mädchen wirklich vertrauen?

"Du weißt, dass ich verfolgt werde", fing sie dann an und ich nickte zustimmend.

"Aber es ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst."

Trocken lachte ich auf.

"Seit wann ist es einfach, von jemandem verfolgt zu werden?", fragte ich sie dann, worauf sie aber nicht einging.

"Das, was mich verfolgt", fuhr sie fort und ich wurde wieder stumm, ",ist ... der Teufel in Person. Ein Dämon, Luzifer, wie auch immer du es nennen willst."

Ungläubig musterte ich sie und wartete darauf, dass sie in Gelächter ausbrechen, mir in den Arm boxen und sagen würde, dass mein Gesicht zu herrlich ausgesehen hätte und dies alles nur ein Scherz war. Die erwartete Reaktion kam nicht.

"Das ist nicht dein Ernst, oder?", murmelte ich und zog eine Braue hoch. "Ich glaube nicht an den Teufel und Dämonen, tut mir leid."

Schon fast panisch griff sie nach meinem Arm.

"Ich weiß, wie schwer es zu glauben ist, aber es ist die Wahrheit! Er kann Personen kontrollieren, er steuert ihre Bewegungen. Das ist der Grund, weshalb ich nicht weiß, wie er aussieht! Er versucht mich zu töten! Er jagt mich!"

Verängstigt sah sie mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte. Natürlich konnte es nicht stimmen, der gesunde Menschenverstand sprach dagegen, doch trotzdem zögerte ich. Nun war ich in Louis' Position. Es stand jemand vor mir, der mir eine vollkommen unglaubwürdige Geschichte auftischte, um ein Verhalten zu erklären. Aber ich glaubte ihr. Jedenfalls soweit, dass ich glaubte, dass sie an ihre eigene Geschichte glaubte. Ich konnte es ihr ansehen.

"Das bildest du dir ein, Amara", versuchte ich ihr zu erklären, doch sie schüttelte hektisch ihren Kopf, sodass ihre Haare in alle Richtungen flogen.

"Nein, Harry! Ich bilde es mir nicht ein! Es ist die Wahrheit! Er ist ein Dämon, es sind alle diese Leute, die mich verfolgen, die versuchen, mich zu töten!"

Das Ganze klang immer unglaubwürdiger.

"Dann habe ich zwei Fragen an dich", meinte ich und sie bedeutete mir mit einer Handbewegung fortzufahren.

"Erstens: Warum? Und zweitens: Wie kommst du darauf?"

Noch einmal sah sie sich um, dann sprach sie hastig und in gedämpftem Tonfall, wie wenn sie befürchtete, dass jemand uns belauschen könnte.

"Ich weiß nicht, wieso er mich verfolgt! Ich weiß es wirklich nicht! Aber ich merke es. Mir fallen die Leute auf, die mich verfolgen. Daran, wie sie mich ansehen, durch das, was sie machen ..."

Seufzend begann ich erneut damit, im Zimmer auf und ab zu laufen. Sie hatte nicht einmal Beweise!

"Bitte, du darfst nicht zur Polizei gehen, sie würden mich für verrückt erklären!", meinte Amara mit einer solchen Dringlichkeit, dass es mir fast unmöglich war, die Bitte abzulehnen. Sie wirkte so unglaublich verzweifelt!

Jedoch war es vielleicht sogar sicherer, wenn sie professionelle Hilfe bekam. Wenn sie zu jemandem ging, der ihr glaubhaft erklären konnte, dass es nicht stimmte. Doch eine kleine aber stetige Stimme in meinem Kopf, wisperte immer die gleiche Frage:

"Was, wenn sie nicht diejenige ist, die Halluzinationen hat? Was ist, wenn du es einfach nicht einsehen willst?"

Und verdammt noch mal, diese Stimme konnte ich nicht ignorieren. Sie war so leise und hatte doch einen solchen Einfluss auf mich. Denn sie sorgte dafür, dass ich nicht auf meine Vernunft hörte. Sie sorgte dafür, dass ich nicht nach dem Telefon griff, um die Polizei zu rufen oder auch einen Psychologen. Wegen ihr drehte ich mich zu dem verängstigt wirkenden Mädchen um und nickte schließlich.

"Okay. Ich rufe keine Polizei."

Erleichtert atmete sie auf, bevor sie zu meiner Überraschung einen Schritt nach vorne machte und mich umarmte. Einfach so. Perplex verkrampfte ich mich.

"Danke, Harry", nuschelte sie leise. "Ich glaube nicht, dass es viele Personen mit einem so guten Herzen auf dieser Welt gibt."

Immer noch etwas verdattert strich ich ihr sanft über den Rücken.

"Warum vertraust du mir?", fragte ich schließlich. "Verstehe mich nicht falsch, ich bin froh, dass du es tust, ich begreife nur den Grund dafür nicht."

So plötzlich wie sie mich umarmt hatte, ließ sie mich auch wieder los, aber nur, damit sie mir in die Augen sehen konnte.

"Ganz einfach. Bisher ist er immer aufgetaucht, wenn du in meiner Nähe warst. Das heißt, dass du nicht von ihm besessen sein kannst. Auch der Teufel kann sich nicht aufteilen."

Sie zuckte mit den Achseln. Dann machte sie eine Handbewegung, griff nach etwas an ihrem Nacken und hielt letztendlich die Kette mit dem Silberkreuz in ihrer Hand.

"Hier", meinte sie und reichte es mir. Verwirrt starrte ich darauf, ich wusste nicht, was ich damit machen sollte.

"Nimm es", erklärte sie. "Es wird sich schützen."

Vorsichtig steckte ich meine Hand aus, umfasste den Anhänger, ließ ihn dann los und hielt meine Hand darunter, während sie ihn, zusammen mit der restlichen Kette, in diese fallen ließ.

Ganz langsam bewegte ich meine Hand zu mir zurück, öffnete den Verschluss und legte mir die Kette um.

"Danke", sagte ich dann und berührte das Kreuz.

Dieses so kleines Geschenk bedeutete mir mehr als alles, was ich zuvor bekommen hatte.

Engelsgleich || h.s. ✓Where stories live. Discover now