9. Ein beschissener Freund

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"Als Louis anrief, überlegte ich, ob ich ihn wegdrücken sollte, entschied mich aber dagegen. Er hatte eine Erklärung mehr als verdient ..."

*****

Der Park war nicht gerade sehr voll, als wir ankamen. Wir beschlossen, uns auf eine mit Graffiti besprühte Bank zu setzen, wo wir erneut in unterschiedliche Richtungen starrten und zu verbergen versuchten, dass wir uns beide Gedanken über den Vorfall mit der Frau machten. Dabei waren wir hierher gekommen, um uns abzulenken! Aber wahrscheinlich gehörte ein Geschehen wie dieses zu den Sachen, die man nicht so einfach vergessen konnte.

Die Rothaarige war mir weniger bedrohlich vorgekommen, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war relativ klein, dünn und zierlich gewesen, nicht das typische Bild eines Stalkers, zudem hatte sie so überfordert mit der Situation und vollkommen verunsichert gewirkt! Doch man täuschte sich oft in Personen, das fiel mir immer wieder auf. Auch wenn sie nicht gerade stark wirkte, konnte sie eine ernstzunehmende Bedrohung werden. Wer wusste schon, wie viele Waffen sie möglicherweise in ihrer Wohnung gebunkert hatte? Denn theoretisch war es ja egal, ob ein muskulöser oder eher schmächtiger Mensch den Abzug drückte, töten konnte eine Pistole immer.

Was wollte sie überhaupt von Amara? Diese musste es ja wissen, scheinbar wollte sie mir den Grund dafür aber nicht sagen, was ich akzeptierte. Es ging mich höchstwahrscheinlich einfach nichts an.

Die Stille wurde durch das Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich schaute auf die Uhr, dann auf mein Telefon und seufzte. Es war Louis. Seine Schicht hatte soeben geendet, weshalb er mich nun noch einmal zu erreichen versuchte.
Schon war ich versucht, ihn einfach wegzudrücken, doch dann besann ich mich eines Besseren. Ich hatte meinen besten Freund in letzter Zeit schon so häufig im Stich gelassen und nun hatte ich ja eigentlich Zeit.

"Louis?", murmelte ich also kleinlaut und hielt mir das Handy ans Ohr. Neben mir sah mich Amara einen Moment lang verwirrt an, bis sie realisierte, dass ich am telefonieren war. Deshalb drehte sie sich wieder um und beobachtete stumm eine Entenfamilie, die über den Gehweg watschelte und auf dem Weg zum See war, der sich unmittelbar vor uns erstreckte.

"Harry?", hörte ich die Stimme meines besten Freundes. "Was soll der Scheiß?"

Verlegen zog ich den Kopf ein.

"Tut mir ja leid", nuschelte ich und verzog das Gesicht, obwohl er mich nicht sehen konnte.

"Da bin ich aber beruhigt", grummelte Lou sarkastisch, "denn jetzt weiß ich, dass du wenigstens Schuldgefühle hast."

Eine Sekunde herrschte absolute Stille, bis er fortfuhr: "Es ist mir gleich, ob es dir leid tut, Harry! Willst du mich eigentlich komplett verarschen?! Erst erklärst du dich dazu bereit, meine Schicht zu übernehmen und machst es nicht, wodurch dein Dad uns beide anmotzt. Gut, jeder kann mal etwas vergessen, das war ja auch nicht weiter schlimm. Aber jetzt verpisst du dich mitten in deiner Schicht und lässt mich mit einem zerbrochenen Glas und scheiße vielen, schockierten Kunden zurück, noch dazu, wenn fast alle Tische belegt sind! Wie stellst du dir das vor? Soll ich mich vielleicht verdoppeln oder sollen mir noch ein paar zusätzliche Arme wachsen? Außerdem bekommst du den ganzen Ärger ja nicht einmal ab! Du bist ja Daddys kleiner Liebling, dir kann nichts passieren. Und wenn du deine Arbeit zehn Mal vernachlässigen würdest, es bockt hier doch eh keinen! Es steht ja quasi fest, dass du das verdammte Restaurant erben wirst und deine Eltern sind so stolz auf dich, weil du ja so ein guter Junge bist, der so schlau ist, aber der sich trotzdem dazu entschieden hat, das Familienunternehmen zu behalten. Aber weißt du was? Ich bin auf den scheiß Job angewiesen, weil es meiner Familie nicht so gut geht wie deiner! Was denkst du, wie ich Mums Pflege bezahlen soll? Oder meine ganzen Geschwister ernähren, wenn ich von deinen Eltern gefeuert werde, weil du Scheiße baust?"

Betroffen sah ich in die Ferne. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und ich schluckte schwer. Das Problem war, dass ich den ganzen Vorwürfen nicht einmal etwas entgegenzusetzen hatte, denn: Es war die verdammte Wahrheit!

"Louis", meinte ich und presste die Lippen aufeinander, bevor ich weiterredete. "Es tut mir enorm leid, wirklich. Es war ein Notfall, das musst du mir glauben und es wird nicht noch einmal vorkommen. Meine Freundin, sie ... sie hat Hilfe gebraucht. Ich hatte dir doch schon einmal davon erzählt, sie wird verfolgt ..."

Selbst in meinen eigenen Ohren klang das wie eine billige Ausrede.

"Es reicht. Fang nicht wieder mit dieser Masche an", meinte Louis hart und ich schloss die Augen.

"Nein, du musst mir glauben!", rief ich verzweifelt. "Ich kann sie zu dir bringen, sie kann es dir erklären!"

Flehentlich sah ich zu Amara hinüber, welche bestätigend nickte. Dankbar rang ich mir ein Lächeln ab.

"Ich will keine von deinen Weibern, die mir irgendeine Lüge auftischen, die du ihr vorher eingebläut hast, Harry."

Noch verzweifelter griff ich mir mit der freien Hand an die Schläfe und schüttelte den Kopf.

"Louis, ich ... ich kann dir nur das erzählen, denn es ist die Wahrheit! Ich ... sie hat meine Hilfe gebraucht, ihr Verfolger, es war eine Frau ... sie war bei ihr. Wenn ich nicht gekommen wäre, wer weiß, wie das Ganze dann geendet hätte!"

Noch während ich es aussprach, wusste ich, dass ich mich dadurch nur noch tiefer in die ganze Scheiße hineinritt.

"Hör zu, Harry. Was auch immer du da treibst, wenn du deine Arbeit schwänzt, mach es doch bitte, wenn du deine Schicht beendet hast. Oder wenigstens so, dass ich es nicht ausbaden muss. Ich habe nämlich auch noch andere Verpflichtungen als dein Sündenbock zu sein."

Mit diesen Worten legte er auf.

Eine kurze Zeit starrte ich einfach nur fassungslos auf den Bildschirm meines Handys, der nun aber keinen Anruf mehr anzeigte. Schließlich ging er ganz aus und ich kniff die Augen zusammen. Das konnte nicht wahr sein.

"Was für eine verfickte Scheiße", murmelte ich leise und fuhr mir über das Gesicht.

Amara musterte mich besorgt und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter, was mich zum Aufschauen brachte.

"Alles in Ordnung?", fragte sie vorsichtig und ich schüttelte nur mit dem Kopf.

"Es ist ...", begann ich mit einem Frosch im Hals, räusperte mich dann und schüttelte erneut den Kopf, in der Hoffnung, dass dies meine Gedanken klären würde. Natürlich stellte sich der gewünschte Erfolg nicht ein.

"... nichts.", keuchte ich schließlich heiser und vergrub den Kopf in meinen Händen. "Nur, dass ich wahrscheinlich der beschissenste Freund auf der ganzen Welt bin und Louis das soeben begriffen hat. Ich kann ihm ja nicht einmal böse dafür sein."

Ich sah sie nicht an, was vielleicht auch gut so war. Momentan wollte ich einfach niemanden sehen. Alles, was in meinem Kopf herumschwirrte, war, wie zum Teufel ich die Lage mit Louis geradebiegen konnte. Mir fiel nichts ein. Jede Möglichkeit, ihm Amaras Problem zu erklären, würde wie eine schlechte Ausrede für mein Fehlen wirken.

"Das wird schon wieder", versuchte sie mich zu beruhigen, doch wir beide wussten, dass sie rein gar nichts an meiner Situation verändern konnte.

Trotzdem nickte ich benommen. Irgendwie würde ich Louis schon die Wahrheit erklären. Ich musste es einfach tun!

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt