3. Er ist hier

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"Es war eisig kalt an der Bushaltestelle. Irgendwann fragte sie nach meinem Namen. Ich wusste nicht wieso, vielleicht war ihr die ewige Stille ja genauso unangenehm wie mir?"

*****

Es war mittlerweile dunkel draußen. Der Herbst machte sich schon deutlich erkennbar, dadurch, dass die Blätter der Bäume sich verfärbten und auch durch die Kälte. Beim Ausatmen bildeten sich kleine Wolken und ich rieb die Hände aneinander, um sie etwas wärmer zu bekommen.

Bis zur Bushaltestelle liefen wir schweigend, sie mit hochgezogenen Schultern, schnellen Schrittes, den Blick starr nach vorne gerichtet, während ich mich stetig umschaute, auf der Suche nach einer auffälligen Person, die uns verfolgen könnte. Ich wurde nicht fündig.

An der Haltestelle angekommen, setzten wir uns auf die eiskalten, dreckigen Plätze und starrten stumm in entgegengesetzte Richtungen, da ich mich nicht traute etwas zu sagen und sie ebenfalls keine Anstalten zum Reden machte. Die Straßen schienen wie leergefegt zu sein, doch ich wusste, dass dies nichts bedeuten musste.

"Danke", brach sie die Stille schließlich, was mich zum Zusammenzucken brachte.

"Wofür?", erwiderte ich, lehnte mich an die schmutzige Wand der Überdachung zurück und legte den Kopf leicht schief.

"Sie sind mit mir hierher gekommen", erklärte sie und zuckte mit den Achseln.

Mit einem unergründlichen Blick sah sie mich an. Ich zog einen Mundwinkel nach oben.

"Ich konnte Sie nicht alleine gehen lassen", erklärte ich, worauf eine erneute Stille folgte. Sie war unangenehm, aber ich wusste nicht, womit ich sie durchbrechen konnte. Jede Möglichkeit, um ein Gespräch anzufangen, kamen mir in diesem Moment völlig absurd vor.

"Dürfte ich Ihren Namen erfahren?", fragte sie mich irgendwann höflich, vielleicht war ihr dieses ewige Schweigen ja ebenfalls zu unangenehm geworden.

"Harry", erklärte ich ihr mit einem Lächeln auf den Lippen, "Harry Styles. Aber es reicht mir, wenn Sie beim Vornamen bleiben."

Im schwachen Schein der Straßenlaternen meinte ich sie nun auch lächeln zu sehen.

"Nett dich kennen zu lernen, Harry", meinte sie dann.

"Und wie ist ... Ihr Name?", fragte ich dann, ich war mir nicht sicher, wie ich sie anreden sollte und entschloss mich letztendlich zu der höflichen Wahl.

"Amara Fall", lautete ihre Antwort. "Aber ich denke mal, Amara langt ebenfalls."

"Amara", wiederholte ich. Sie schaute auf, zog dann das rechte Bein an ihren Körper heran und umfasste es mit ihren Armen, während sie auf die leuchtende Anzeigetafel starrte und darauf wartete, dass ihr Bus endlich kommen würde.

Wenn man auf etwas wartete, zog sich die Zeit wie ein Gummi, zäh und unnachgiebig, sie wollte einfach nicht vergehen. So erschien es mir nun auch, es wirkte fast, wie wenn die Sekunden zu langsam ablaufen würden.

"Wieso arbeitest du als Kellner?", fragte sie mich irgendwann und ich sah auf. Dann zuckte ich mit den Achseln.

"Es ist das Restaurant meiner Eltern. Irgendwann werde ich es wahrscheinlich übernehmen", erklärte ich ihr.

Sie legte den Kopf leicht schief, sodass ihre langen Haare wie ein hellblonder Wasserfall nach unten fielen.

"Also hattest du keine Wahl? Es war von Anfang an klar?"

"Nein", beeilte ich mich zu sagen, denn diese Vermutung ließ meine Eltern in schlechtem Licht dastehen, es sah geradezu so aus, wie wenn sie mich zu etwas gezwungen hätten. Sie waren es eher gewesen, die mir des Öfteren gesagt hatten, dass ich das alles nicht zu machen brauchte, dass es auch eine andere Lösung geben würde. Aber Fakt war, dass ich es wollte!

"Meine große Schwester hat schon von Anfang an gesagt, dass sie etwas anderes machen möchte. Nun wäre nur noch ich in der Familie übrig geblieben und ich habe lange Zeit darüber nachgedacht. Natürlich ist es nicht gerade verlockend, wenn man auf der anderen Seite die Möglichkeit zum Studieren hätte, aber ich habe beschlossen, dass ich die Tradition fortführen möchte. Ich möchte das Restaurant leiten!"

Sie nickte verstehend.

"Du hast eine Schwester?", hinterfragte sie dann und ich nickte.

"Ja, Gemma", erklärte ich ihr. "Und du? Irgendwelche Geschwister?"

Sie strich sich ihre Haare zurück, wurde von der Tafel abgelenkt, auf der die Minutenanzeige von einer Zehn auf eine Neun sprang und schüttelte dann den Kopf.

"Nein, ich bin die Einzige."

Fröstelnd zog ich die Jacke dichter an mich, langsam wurde es hier draußen wirklich kalt. Um mir die Zeit zu vertreiben, fing ich erneut zu reden an.

"Und wieso ..."

Ich kam nicht weiter, weil sie mir einen Finger auf die Lippen gelegt hatte, die Augen erneut so weit es nur ging aufgerissen, das Gesicht kreidebleich.

"Er ist hier", wisperte sie angsterfüllt und sah erneut über ihre Schulter. Ich wusste sofort, dass sie über ihren Verfolger redete, weshalb ich mich anspannte und mich leicht zur Seite lehnte, um hinter ihr vielleicht jemanden erkennen zu können. Vergeblich.

"Bist du sicher?", flüsterte ich zurück, da ich niemanden gesehen hatte.

"Absolut."

Nervös sah ich mich erneut um, konnte aber auch dieses Mal auf der menschenleeren Straße keinen erkennen. Doch ich glaubte ihr.

"Verdammt", fluchte ich leise, als sie ihren Finger von meinen Lippen nahm und sich noch einmal umsah. "Und was machen wir jetzt?"

Der Bus würde erst in sieben Minuten kommen, wir konnten somit schlecht hier sitzenbleiben und darauf warten, dass der Stalker kam und seelenruhig erkennen konnte, wohin sie fuhr.

Letztendlich sprang ich auf, griff nach ihrem Arm und zog sie ebenfalls mit mir, sodass wir dicht nebeneinander auf dem Bürgersteig zurück in Richtung Restaurant hasteten.

"Was hast du vor?", fragte sie atemlos und machte einige größere Schritte, um mit mir mithalten zu können.

"Wir gehen zurück", erklärte ich ihr. "In meine Wohnung wird er nicht kommen. Und dass du im Restaurant warst, wusste er schon vorher. Vielleicht verschwindet er ja irgendwann, wenn er merkt, dass er nicht an dich herankommt?"

Das Ende meines Satzes klang mehr nach einer flehentlichen Bitte. Natürlich würde er nicht einfach so abhauen, das taten Leute wie diese nicht. Doch mir fiel kein besserer Ort ein, an den ich sie hätte bringen können. Zuhause kannte ich mich wenigstens aus! Noch dazu war zu hoffen, dass ihn die Tatsache, dass sich meine Wohnung im ersten Stock befand, davon abschreckte, durchs Fenster einzusteigen. Ja, ich war überzeugt, dass es sich bei meiner Wohnung um den sichersten Platz handelte, den ich Amara bieten konnte. Und das stimmte wahrscheinlich sogar.

"Ich kann doch nicht zulassen, dass dir etwas passiert, Amara", murmelte ich, um sie ein wenig zu beruhigen.

Sie antwortete nicht, weil sie sich hektisch umsah. Wäre ich in ihrer Position gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich nicht anders verhalten. Aber ich war erleichtert, als ich die vertrauten Umrisse des mehrstöckigen Hauses sah, in dessen unterstem Geschoss sich das Restaurant befand, in dem wir vor kurzer Zeit noch gesessen hatten.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt