12. Ein sicherer Ort

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"Er war die einzige Person, die mir noch eingefallen wäre. In meiner Wohnung fühlte sie sich nicht sicher und ich befürchtete, dass sie in ihrer Panik weglaufen könnte. Ich wollte ihr helfen, somit fragte ich ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit, in der Hoffnung, dass sie sich dort sicherer fühlen würde ..."

*****

Ich recherchierte viel im Internet. Ich sah nach, was man für Leute wie Amara tun konnte, doch das war schwieriger, als ich es mir zunächst vorgestellt hatte. So viel Schrott gab es, dass es schwer war, die seriösen Informationen herauszufiltern.

Ablenkung war eine Sache, die ich des Öfteren fand. Man sollte Dinge unternehmen, Freunde besuchen, alles versuchen, damit die Person sich in die Gesellschaft eingegliedert fühlte und weniger das Gefühl einer potentiellen Bedrohung hatte. Also sah ich mich nach Freizeitaktivitäten in der Gegend um, wurde jedoch wieder nicht fündig. Alle Möglichkeiten, die es in der Umgebung gab, fielen wegen unpassenden Umständen oder der falschen Jahreszeit weg. Somit entschloss ich mich, es mit ganz einfachen Dingen zu versuchen. Ich musste sie irgendwie davon überzeugen, dass sie sich dies alles nur einbildete!

"Warum warst du eigentlich in unserem Restaurant?", fragte ich sie irgendwann, als wir, nachdem meine Schicht geendet hatte, zusammen zu Abend aßen.

"Ich suche mir oft verschiedene Orte, an denen ich bleibe, bis er kommt", erklärte sie mir mit einem Schulterzucken. "Eigentlich sollte ich auch nicht mehr hier in deiner Wohnung sein, Harry, es ist gefährlich für uns beide ..."

"Wohin willst du sonst gehen?"

Mir gefiel es nicht, dass sie weg wollte. Nicht jetzt, wo sie mich an sie herangelassen und mir ihr sicher behütetes Geheimnis erzählt hatte. Wahrscheinlich war ich eine der wenigen Personen dieser Welt, denen sie vertraute! Ich war vielleicht als Einziger in der Position, ihr irgendwie zu helfen ...

"Das ist der Grund, wieso ich bleibe", erklärte sie mir nun. "Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Aber er hat mich schon einmal entdeckt. Wenn du also irgendeinen Ort kennst, wo ich hingehen könnte ...?"

Als ich schwieg, seufzte sie.

"Du hast schon mehr als genug getan", erklärte sie dann. "Was habe ich für ein Recht, noch so etwas von dir zu verlangen?"

"Nein", beeilte ich mich zu sagen, "ich denke nur nach."

Das tat ich wirklich. Doch mir wollte partout keine Lösung für dieses Problem einfallen. Ich kannte niemanden, bei dem sie möglicherweise hätte bleiben können, aber mir musste etwas einfallen! Wenn nicht, war es vielleicht schon zu spät. Wer wusste schon, wann sie zum nächsten Mal den Gedanken hatte, dass irgendjemand sie entdeckt hatte. Vorausgesetzt, dass es überhaupt nur ein Gedanke war ...

"Vielleicht kenne ich da jemanden ...", murmelte ich schließlich, denn ein plötzlicher Gedanke war mir gekommen.

"Ich werde ihn mal fragen, ob wir vorbei kommen dürfen."

Amara nickte bekräftigend und somit war die Sache geklärt.

Das Haus in dem mein Kumpel Zayn wohnte, hatte sich seit meinem letzten Besuch kaum verändert. Immer noch stand es in einer eher abgelegenen Umgebung, war jedoch eine der wenigen Häuser in dieser Gegend, die noch nicht vollkommen heruntergekommen waren.

Der Schwarzhaarige öffnete uns sogar schon die Tür, ich hatte unseren Besuch vorher angekündigt. Sein Blick durch die braunen Augen musterte erst mich, dann Amara, bis er seine Hand ausstreckte, in welche ich einschlug. Auch dem blonden Mädchen reichte er eine Hand, jedoch um die ihre kurz zu schütteln. Mit einem Handschlag begrüßte man Fremde für gewöhnlich nicht.

"Und du brauchst was zum Übernachten?", fragte er sie dann. Unsicher schielte Amara kurz zu mir hinüber und ich nickte ihr aufmunternd zu.

"Ja", meinte sie dann schließlich und Zayn grinste.

"Danke, Kumpel", murmelte ich. Eine der Sachen, die ich an ihm schätzte, war, dass er wenig Fragen stellte und eine Bitte einfach erfüllte. Einzelheiten hatte ich ihm nicht erzählt, lediglich, dass eine meiner Freundinnen einen Schlafplatz für einige Tage benötigte, und, ob wir vorbei kommen könnten. Er hatte dem Ganzen sofort zugestimmt.

Er machte einen Schritt zur Seite und wir betraten den engen Flur seiner Wohnung. Auch hier drinnen hatte sich nichts verändert, obwohl es schon etwas länger her war, dass wir uns zum letzten Mal hier getroffen hatten. Wir kannten uns noch aus der Schule, doch jetzt, wo wir beide schon längere Zeit nicht mehr dort waren, schafften wir es nicht mehr häufig, uns zu treffen. Demnach war ich umso dankbarer, dass er meine Bitte nun erfüllte und Amara bei sich aufnahm. Er war die einzige Person gewesen, die mir eingefallen wäre.

"Wollt ihr was trinken?", fragte er uns dann und ich schüttelte den Kopf.

"Nein, danke", lehnte ich ab und machte einige große Schritte, sodass ich im Wohnzimmer angelangt war. Eine schmale Glastür führte von dort aus auf den fast genauso schmalen Balkon, der mehr zur Zierde als zum wirklichen Gebrauch gedacht war, während in einer Ecke ein graues Sofa stand. Das Zentrum des Raumes füllten ein weicher Teppich und ein Glastisch darauf aus. An der Wand hing ein großer Fernseher, während die Tapete über und über mit Graffiti besprüht war.

"Von dir?", hinterfragte ich und nickte in Richtung der Kunstwerke, mit der die Wand verziert war.

"Ja", meinte er und nickte. "Es macht den Raum freundlicher."

In mich hineinlachend begutachtete ich die gesprühten Bilder.

"Der Vermieter wird sich freuen, wenn er das sieht", kicherte ich.

Amara hatte sich währenddessen im Wohnzimmer umgesehen und blickte nun mich und meinen Freund an.

"Und es ist wirklich in Ordnung, wenn ich hier bleibe?", fragte sie dann.

"Für den guten alten Harry mache ich so Einiges", erklärte Zayn und klopfte mir auf die Schulter. "Und das Gästezimmer steht momentan leer, also, wieso nicht?"

Dankbar lächelte ich ihm zu.

"Du bist der Beste, Zayn!", sagte ich.

"Ich weiß doch", lachte er, drehte sich dann aber um. "Also ich mache mir jetzt einen Kaffee. Hat wirklich kein anderer Interesse?"

Wir schüttelten mit den Köpfen, woraufhin er mit den Achseln zuckte und sich auf den Weg zur Küche machte. Als er den Raum verlassen hatte, trat Amara näher an mich heran.

"Bist du sicher, dass er vertrauenswürdig ist?", flüsterte sie mir leise ins Ohr und ich nickte.

"Keine Angst", beruhigte ich sie, "du bist hier sicher. Ich komme jeden Tag vorbei, wenn du das willst!"

Sie wirkte ein wenig erleichterter und ich konnte langsam aufatmen. Das hieß, dass sie fürs Erste hier bleiben würde, was wiederum bedeutete, dass sie sich nicht durch irgendwelche Einbildungen selbst in Gefahr brachte. Ich würde ihr helfen können, da war ich mir sicher. Ich würde sie davon überzeugen können, dass alles in Ordnung war.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt