04

6.6K 306 30
                                    

Am nächsten Morgen fand ich die Wohnung leer vor. Mein Vater hatte sich auf den Weg zur Arbeit gemacht, bevor ich überhaupt aufgestanden war. Nur eine Schüssel voll Reis und Gemüse und ein Glas Orangensaft hatte er mir auf dem Esstisch hinterlassen. Wie die Umstände es verlangten, war der Reis bereits kalt, als ich mich zum Frühstücken hinsetzte. Die Stille im Raum wurde von den Geräuschen der Stadt übertönt. Wieder sammelte sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust, als ich an den gestrigen Abend zurückdachte. War mein Vater so sauer auf mich, dass er sogar vermied mir über den Weg zu laufen?
Ich wusste es nicht, aber möglich erschien es mir schon, bei der Art und Weise wie ich ihn angemacht hatte.
Ein Teil von mir bereute es die Worte, welche ich ausgesprochen hatte, über die Lippen gebracht zu haben. Der andere jedoch wollte den Aussagen meines Vaters einfach nicht zustimmen. Auch wenn es riskant war, sich mit Idolen anzufreunden, hieß es nicht, dass ich direkt in den Medien landen würde! Sogar die letzten sechzehn Jahre meines Lebens war nichts dergleichen passiert, obwohl ich mit dem Eigentümer von "JYP Entertainment" in einer Wohnung lebte. Und außerdem hatte ich den Jungs nicht einmal verraten, wessen Tochter ich war. Solange sie es nicht wussten, konnte doch auch nichts schief gehen! In ihren Augen war ich nur Kairi die Solotänzerin, die vorübergehend bei JYP trainierte. Nicht die Tochter ihres Managers.
Letztendlich ergab es keinen Sinn, dass ich mich nicht mit ihnen anfreunden durfte. Irgendwann würde ich sowieso erwachsen sein und konnte über mein eigenes Leben bestimmen. Da machte es doch keinen Unterschied, sich schon jetzt mit jemandem anzufreunden. Ich musste meinem Vater doch garnicht davon erzählen. Er würde es sowieso nicht mitbekommen, wenn ich trotz seiner Worte etwas mit Stray Kids machte. Wie sollte ich es seiner Meinung nach auch schaffen das JYP-Gebäude zu betreten und verlassen, ohne dass ich einem Idol begegnete?
Das war schier unmöglich!
In Gedanken vertieft stopfte ich mir den Mund mit Reis voll und machte mich nach dem Essen für die Schule fertig.

Mein Pferdeschwanz sauste durch die Luft, während mein Kopf zur Seite schnellte, um das Spiegelbild wieder ins Visier zu nehmen. Erneut holte ich mit dem linken Bein aus, damit es der Drehung mehr Schwung verleite. Nach der Pirouette, setzte mein anderer Fuß vom Boden ab und ich vollendete die Strophe mit einem Spagatsprung.
Schnaufend verweilte ich auf der Tanzfläche. Meine Wangen glühten vor Anstrengung und waren ganz rot geworden. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn, da diese bereits einzelne Schweißtropfen aufwies. Das Herz raste in meiner sich ständig heben- und senkenden Brust.
Erschöpft sank ich neben meinem Notizblock auf dem Parkettboden und stillte meinen Durst mit einem großen Schluck aus meiner Wasserflasche. Das Tanzen, vor allem das Erfinden einer Choreo hatte es in sich. Der Anfang war jedes Mal, der am schwersten zu überwindende Part. Besonders wenn der Song zu dem man tanzte nicht zur gewohnten Musikrichtung passte.
Was ich begann, flehte ich aber immer zu Ende zu bringen. Deswegen schnappte ich mir meinen Stift und notierte die Tanzschritte auf dem linierten Papier. Das Lied, welches ich mir für das Solo ausgesucht hatte, war eine echte Herausforderung: Die komplette erste Minute des Songs bestand aus langsam steigendem Beat und Melodie. Später setzte auch der Sänger ein, im Refrain allerdings war allein die technische Überarbeitung des Remix' zu hören.
Ich musste zugeben, dass es ohne eine Herausforderung aber nur halb so viel Spaß machte!
Während ich so dasaß, um eine Verschnaufpause zu machen, lief das Lied in Endlosschleife weiter. Ich lauschte gespannt dem Refrain und überlegte schon einmal, welche Moves sich in ihm einbauen ließen. Als ich wieder aufstand, klopfte es an der Tür des Trainingsraums. Verwundert bat ich die Person, die im Flur stand hereinzukommen. Durch den nun kleinen Spalt in der Tür erblickte ich Jisung, hinter dem noch jemand anderes zu sehen war.
"Können wir reinkommen, Kairi?", fragte er mit unruhiger Stimme. Ich zuckte mit den Schultern: "Meinetwegen, kommt rein." Im selben Moment stürmten Jisung, Jeongin, Minho und Woojin ins Zimmer. Woojin schloss schnell die Tür hinter sich. Warum hatten sie es so eilig? Versteckten sie sich etwa vor jemandem?
Bevor ich mich erneut ihnen zuwandte, stellte ich die Musik leiser. "Warum hastet ihr denn so?", fragte ich dann. Alle bis auf Jisung hatten sich auf dem niedergelassen. Dieser hockte vor der Tür und schielte durchs Schlüsselloch.
"Chan hat gerade eine neue Strechingsession mit uns gemacht. Normalerweise müssen wir uns nur kurz vor dem Training dehnen, aber es nimmt in letzter Zeit ein ganz anderes Level an.", teilte mir Woojin mit. Jisung strich sich die Haare unter seine Mütze, damit sie ihn nicht beim Spähen störten. "Da sind wir geflohen und jetzt ist Chan hinter uns her.", fügte er Woojins Erklärung hinzu. Ich nickte und beobachtete die Anderen. Jeongin stöhnte kaum hörbar und rieb sich das Bein. "Ich glaube, ich werde nie mehr tanzen können!", jammerte er und lehnte sich an Minho. Mitleidig tätschelte dieser die Schulter seines Kumpels. Ich musste belustigt auflachen, als ich sie dort sitzen sah. Sie wirkten verstreut und müde. Dass sie übertrieben, hatte ich allerdings bei Jeongins Aussage gemerkt. So schlimm konnte die Strechingsession, von denen sie sprachen nicht sein! Als immerzu tanzende Boygroup waren sie doch sicher nicht ungelenkig! Bei Jeongin war ich mir demgegenüber nicht so im Klaren.
Nach meiner Vermutung musste die Luft im Gang rein sein, da Jisung sich an der Tür herabsinken ließ und mit erleichtertem Gesichtsausdruck die Augen schloss.
Kopfschüttelnd ergriff ich meinen Notizblock, an dessen Innenseite der Kulli heftete. "Ich nehme mal an, dass ihr hier bleibt bis sowieso keine Strechingsession mehr stattfindet, oder?", erkundigte ich mich bei ihnen. Sie nickten syncron , ohne sich dabei anzuschauen. Ich setzte mich ebenfalls auf den Boden und nickte ins Nichts. "Dann fahre ich eben bis dahin mit dem Aufschreiben fort.", murmelte ich. Konzentriert versuchte ich mich wieder in den Tanz hinein zu versetzen und Züge den Stift. Dabei ertönte Minhos interessierte Stimme: "Was schreibst du denn auf?"
Ich schaute auf und entdeckte die vier aufmerksame Mienen der Jungs. Sie beäugten mich gespannt, woraufhin ich den Block in die Luft hielt. "Ich notiere mir die Tanzschritte für das Solo, damit ich sie nicht vergesse.", antwortete ich wahrheitsgemäß.
Jisung rappelte sich auf und kam zu mir. Mit ausgestreckter Hand setzte er sich neben mich. "Darf ich mal sehen?", fragte er lächelnd. Ich reichte ihm den Notizblock und beobachtete ihn während er die Augen auf das Papier heftete. Nachdem er die wenigen Zeilen, die sich auf dem Papier befanden gelesen hatte, gab er mir den Block zurück. "Das ist gut. Welchen Song hast du dir eigentlich ausgesucht?", wollte er lächelnd wissen. Ich schloss den Block wieder und steckte den Stift an der Vorderseite fest. "Ich habe mir den Remix von It's All On U ausgesucht. Er läuft übrigens gerade, nur etwas leise.", sagte ich und sah nach den Anderen, welche noch an der Wand lehnten. Minho und Woojin redeten miteinander. Jeongin döste mit angewinkelten Beinen an Minhos Schulter. "Dann hast du nicht meinen Song genommen, obwohl der auch eine gute Wahl gewesen wäre. Aber ist ja deine Entscheidung.", meinte er lachend und fügte hinzu: "Wenn ich mich richtig erinnere hat It's All On U Chan aufgeschrieben."
Nun wusste ich von wem das Lied stammte und konnte den etwas anderen Musikgeschmack jemandem zuordnen. Um ehrlich zu sein hatte ich diesen Song nicht von Chan erwartet, sondern eher von Changbin. Aber das tat nichts zur Sache.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Chan stand im Rahmen. Ich blickte, wie die anderen verschreckt zu ihm. "Hier seit ihr!", rief er aus. Sein rosa-roten Wangen hoben sich farblich vom Rest seines Gesichts ab. Er schnaufte laut, als wäre er gerannt und stützte die Hände auf den Knien ab. "Ich habe euch überall gesucht.", schimpfte er außer Atem und stellte sich in die Waagerechte. Jisung, Jeongin, Minho und Woojins Blicke zeugten von der Erkenntnis, dass sie bei dem Versuch sich zu verstecken gescheitert waren. Der enttäuschte Ausdruck auf ihren Gesichtern war nicht zu übersehen. 
Ups! Also musste sie wohl doch zur Strechingsession gehen. So lange hatte der Tanzraum hier nicht als Versteck gedient. Das nächste Mal sollten sie sich vielleicht lieber nicht an einem so durchschaubaren Ort, wie diesem verstecken. Eine abgelegene Besenkammer wäre für solch eine Situation wahrscheinlich besser geeignet. Zu viert in einer staubigen kleinen Kammer zu verweilen wäre andererseits keine angenehmere Idee gewesen. Das es überhaupt eine staubige Kammer in diesem Gebäude gab, bezweifelte ich zudem.
Mit einem schiefen Grinsen winkte ich Chan zu, der sichtlich damit überfordert war, die Jungs an der Wand auf die Beine zu kriegen.
Er begrüßte mich mit einem Lächeln und entschuldigte sich für die Störung, welche die Vier angeblich verursacht hatten.
"Schade. Ich habe gedacht, der Tanzraum würde länger einen Unterschlupf bieten. Das wars dann wohl mit Faulenzen, auf Wiedersehen!", sagte Jisung neben mir. Er erhob sich seufzend vom Parkettboden.
Zustimmend nickte ich und guckte dabei zu, wie er auf den Ausgang zutrottete. Derweil richteten sich die Anderen der Reihe nach auf, wobei Chan Jeongin etwas nachhalf. Sie ließen sich widerwillig von ihm zur Tür lotsen. "Annyeong, Kairi!", riefen sie mir gemeinsam zu. Ihr motivationsloser Ton entging mir kein Bisschen. Ich musste augenblicklich grinsen.
Sie benahmen sich wie kleine Kinder, die vor ihren mahnenden Eltern flohen, wenn es Gemüsepfanne gab. In diesem Fall stellte Chan wohl das Elternteil dar.
"Viel Spaß beim Streching!", rief ich, während der Trupp im Flur verschwand. Chan nahm die Türklinken zur Hand und drehte sich ein letztes Mal zu mir um. "Danke, den werden wir haben. Dir noch einen schönen Tag, Kairi.", verabschiedete er sich. Ich wiederholte meinen freundlichen Winker. Danach fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
So schnell wie die Chaoten gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden.
Irgendwie brachte mich ihre Art zum Grinsen.
War es nicht eigentlich genau das, was den Beginn einer Freundschaft ausmachte? Das man abfing sich zu mögen und Interesse füreinander zu empfinden?
Die neun Jungen musste man aber einfach mögen, daran gab es nichts zu bemängeln? Obwohl ich sie nicht so gut kannte, wollte ich sie kennenlernen.
Ich erinnerte mich an die Tatsache, dass mein Vater mir soetwas verbieten wollte und erneut konnte ich nicht verstehen, warum er so dachte. Er kannte die Neun besser als ich.
Mit gemischten Gefühlen stapfte ich zur Musikanlage, bei der ich mein Handy abstöpselte.
Wenn ich mich nicht irrte, war es langsam Zeit nach Hause zu gehen. Die Uhr meines Handys bestätigte die Vermutung. Es war bereits viertel vor sieben und ich hatte noch einen Berg von Schulzeugs zu erledigen, an den ich mich die letzten zwei Tage nicht herangewagt hatte.
Wenigstens hatte ich es heute geschafft, die Choreo für die erste Strophe fertig zu stellen. Das kurze Zusammentreffen mit den Jungs war ebenfalls nicht unerfreulich erschienen.
Schleunig packte ich Block, Wasserflasche und Handy in meine Sporttasche, dessen Reißverschluss beim Verschließen etwas klemmte. Mit einem neu gebundenen Pferdeschwanz und meiner schwarzen Trainingsjacke über dem dünnen T-shirt verließ ich den Trainingsraum. Auf dem Weg ins Erdgeschoss begegnete ich niemandem mehr, der mir in irgendeiner Weise bekannt vorkam. Ich drückte die Eingangstür des Gebäudes auf und trat auf die nächtlichen Straßen Seouls heraus.

Hi, ich bin's. Sorry, dass das Kapitel erst jetzt kommt. Es ist auch nicht so lang wie die ersten 3. Ich hoffe trotzdem, dass es euch gefällt und freue mich über jeglisches Feedback. LG,
Gretaaaa^^

PS: Ich entschuldige mich schonmal im Vorraus, wenn es bald nur noch wöchentliche Updates gibt. Schule und Stress sind wieder da. Ich liebe es...nicht.

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now