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Duut. Duut. Duut.
Ein Knacken am anderen Ende der Leitung verkündete die Abnahme des Hörers. "Annyeonghaseyo?", ertönte es.
Ich antwortete: "Annyeong! Ich bin es, Kairi."
Warum ich in diesem Moment Chan anrief, hatte mich zu Anfang selbst verwundert, doch dann war mir wieder klar geworden, dass ich auf den Mädchentoiletten beschlossen hatte, jemandem von Shiwon zu berichten. Ich hatte einfach, nachdem ich das Schulgelände verlassen und mich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, mein Handy ergriffen und seine Nummer gewählt, welche wie die der anderen Jungs seit unserem letzten Treffen zu meiner Kontaktliste gehörte. Dafür dass ich Chan und nicht Jisung, Felix oder irgendeinen anderen der Jungs anrief, hatte ich mich allerdings bewusst entschieden.
"Hey, was gibt's? Warum rufst du an?", wollte er wissen.
Ich hatte seine Nummer gewählt, weil ich durch unsere Gespräche, wie zum Beispiel an dem Tag, an dem wir zusammen gekocht hatten, Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte. Er hatte mir damals zugehört, ohne zu viele Fragen zu stellen. Ich war mir sicher, dass er mir dieses Mal auch zuhören würde und wenn er dies nur für Jeongin tat, weil er Stray Kids Leader und Jeongins Freund war. Wenigstens konnte ich dann mit jemandem darüber reden und einen Teil der Last würde von meinen Schultern verschwinden.
"Ich muss mit dir über etwas sprechen.", gab ich ihm daraufhin Auskunft. "Über etwas wichtiges."
Mit diesen Worten stieg ich zu den anderen Menschen in den überfüllten Bus und suchte mir schnell eine der roten Stangen zum Festhalten. Zur selben Zeit machte sich Chan durch das Telefon wieder bermerkbar: "Um was geht es denn? Kann ich dir irgendwie helfen?"
Seine Frage beruhigte meine versteifte Haltung, die ich wegen Unsicherheit und unter anderem der wackeligen Busfahrt angenommen hatte. Mir war bereits zu Kopf gestiegen, dass Chan möglicherweise gar keine Zeit zum Telefonieren hatte. Das wäre nämlich nicht verwunderlich gewesen, da sie am Donnerstag ja ihren Auftritt in Busan haben würden.
"Es geht um etwas, das ich euch verschwiegen habe.", ich überdachte für einen Moment meine Wortwahl. "Um den Tag, an dem wir alle in der Stadt waren und... und an dem Jeongin angegriffen wurde. Ich weiß, wer ihm das angetan hat." Eine weitere Pause folgte, in welcher ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit am Telefon erzählen oder ihn nach einem Treffen fragen sollte. Bevor ich mich jedoch entscheiden konnte, war Chan mir zuvorgekommen. "Warte mal kurz einen Moment...", eine zweite Stimme war im Hintergrund zu hören - sie schien ihm irgendetwas mitzuteilen. Allerdings verschwand sie so schnell, dass mir zu wenig Zeit blieb, um das von ihr Gesagte zu entschlüsseln. "...könnten wir das persönlich besprechen? Ich habe gerade Pause und hier geht es ein bisschen wild zu. Hättest du etwas dagegen, wenn wir uns irgendwo treffen?"
Sofort gab ich ihm Bescheid, dass ich nichts dagegen hatte, denn es ihm persönlich mitzuteilen, würde sich bestimmt besser anfühlen, als nur in das kastenförmige Gerät in meiner Hand zu sprechen. Zwar würde er ohne das Handy dieselben Worte wie über das Telefon aussprechen, aber vielleicht konnte mir seine Anwesenheit ja ein wenig von der Geborgenheit jenen Abends schenken - benötigen tat ich diese nämlich dringend. Also war ein Treffen gar keine so schlechte Idee.
"In Ordnung. Kennst du den Cheongdam Park? Er liegt ganz in der Nähe vom JYP-Gebäude und ist ein guter Ort zum Spazierengehen.", äußerte er sich dann.
Der Cheongdam Park?
Erinnerungen an heiße Sommernachmittage mit meinem früheren Kindermädchen Sook kamen mir ins Gedächtnis.
Nach der Trennung meiner Eltern war sie die letzte gewesen, die mich betreut hatte, da ich damals acht gewesen war und mich mein Vater einige Jahre später für alt genug empfunden hatte, um die Nachmittage allein zu Hause zu verbringen. Mit Sook war ich oft dort gewesen. Wir hatten gemeinsam Federball gespielt, waren gemeinsam Rad gefahren und hatten zusammen Eis gegessen. Ich musste meinem Vater sehr wichtig sein, denn er hatte mich niemals enttäuscht, was die Wahl der Kindermädchen angegangen war. Sie alle waren zu nett gewesen, als dass man sie hätte ersetzen müssen, doch auch sie hatten Privatleben und somit manchmal Gründe für eine Kündigung gehabt.
"Ye, ich war mal da."
"Wie wäre es in zwanzig Minuten?", schlug er nach einer kurzen Pause vor und bewirkte mit dieser Frage, das meine Augen durch den Bus und zur Anzeigetafel schweiften. Die nächste Haltestelle war meine. Wenn ich mich nicht täuschte, sollte ich es also schaffen vor dem Weg zur Grünfläche noch einen Stopp zu Hause einzulegen, damit ich auch eine Sache bloß nicht vergaß - Chans Cap. Und da ich bereits den Bus verließ und meiner Wohnung weitere Schritte näher kam, entschied ich mich dort auch gleich meinen schweren Schulranzen abzustellen.
"Passend. Bis gleich.", antwortete ich. Nachdem er sich verabschiedet hatte, steckte ich mein Handy zurück in die Tasche meiner Uniform und holte stattdessen die Haustürschlüssel hervor. Innerhalb weniger Minuten hatte ich das Haus erreicht, den Fahrstuhl in unser Stockwerk genommen, die Wohnung betreten und ohne Ranzen wieder verlassen. Chans Cap ruhte während ich mich zur nächsten Bushaltestelle bewegte auf meinem von Gedanken durchfluteten Kopf. Obwohl die Mütze weder zu meiner Schuluniform noch zu meinem Schal passte, den ich um den Hals gebunden trug, dachte ich nicht daran sie abzusetzten. Das Gefühl, welches sie mir gab, tat gut.
Nach der rappeligen Busfahrt, lief ich noch ein kleines Stück zu Fuß, bis ich schließlich am Eingang des Parks angelangte. Dort ließ ich mich auf einer Holzbank nieder und fing an zu warten, denn Chan hatte keinen genauen Treffpunkt genannt und es würde wenig Sinn machen, irgendwo im Park zu warten, wo wir nur aneinander vorbeilaufen würden. Es wäre deshalb durchaus schlauer draußen, an einem der Eingänge, zu bleiben. Ich versank in Gedanken - die Beine angewinkelt und das Kinn auf die Knie gestützt.
Wo Chan wohl gerade steckte? Ob er noch auf dem Weg hierher war oder bereits den Park erreicht hatte?
Auf einmal kam mir das gestrige Treffen mit Stray Kids so weit zurückliegend vor. Am heutigen Tag war so Vieles geschehen, dass die Ereignisse der letzten Woche vollkommen ins Dunkle gedrängt worden waren. Shiwons Worte und er selbst ließen mir keine Ruhe. Gab es in einem Moment einmal nichts, mit dem ich mich konzentriert befasste, musste ich immerzu an ihn denken. An das was er gesagt und getan hatte. Manchmal schaffte ich es mich durch eine Beschäftigung von seiner Stimme in meinem Kopf abzulenken, doch diese wurde, sobald mich irgentwas an den einen Abend zurückerinnerte, wieder lauter.
Ich konnte mich glücklich schätzen, die neun Jungs an meiner Seite zu haben. Auch wenn ihnen in Zukunft wohl einige Konzerte und Meetings bevorstehen und sie somit nicht immer Zeit für mich haben würden, war unsere Freundschaft wie ein Anker für mich. Einer, an dem ich mich festhalten konnte, wenn dunkle Gedanken mich fortzureißen schienen. Sie würden mich wohl niemals loswerden - dafür taten sie mir viel zu gut. Und um mich bei ihnen zu revangieren, musste ich wenigestens einem von ihnen die Wahrheit erzählen. Vielleicht half mir das ja auch, etwas besser mit dem Thema umzugehen.
"Entschuldige meine Verspätung.", kam es plötzlich von meiner Rechten. "Ich habe erst eben bemerkt, dass wir keinen genauen Treffpunkt ausgemacht haben." Ich hob den Kopf. Durch die schwarze Mundschutzmaske und die weiße Cap erkannte ich erst beim genauere Hinschauen, dass es wirklich Chan war. Er trug ein weißes Oberteil mit der Aufschrift "New York", welches seine Haut nicht ganz so blass aussehen ließ. Als er zu mir sah und seine Mundschutzmaske unter das Kinn zog, begrüßte mich ein warmes Lächeln. "Wollen wir los?", erkundigte er sich einen Moment später. Nickend erhob ich mich und folgte ihm unter das Dach aus Blättern, deren knallige Farben heute gar nicht zu meinem Gemüt passten. Vögel zwitscherten und hin und wieder kamen uns eine alte Dame oder jemand anderes entgegen, doch niemandem kam Chans Person besonders vor. Es fühlte sich überhaupt nicht so an, wie auf der Straße und in der Innenstadt, wo es nur so von Leuten wimmelte. Hier bestand keine Gefahr von Fans entdeckt und umzingelt zu werden. Dafür war dieser Ort zu unbekannt bei den Jugendlichen dieser Generation. Außerdem war der Cheongdam Park nicht so groß wie manch anderer in Seoul.
Nachdem wir einige Meter hinter uns gelegt hatten, beschloss ich endlich das Wort zu ergreifen: "Danke, dass du dir die Zeit genommen hast." Ich sah im Augenwinkel, wie er zu mir herüber blickte, selbst jedoch schaute ich nur nach vorne, während meine Hände in den Taschen der Uniform nervös kneteten. "Am besten rede ich nicht lange um das Thema herum und komme direkt auf den Punkt.", murmelte ich. Ich zögerte einen Moment und analysierte die Umgebung nach anderen Menschen, doch es war niemand anderes zu sehen. "Am Freitagabend, als wir in der Stadt waren, habt ihr... ich weiß nicht, ob du ihn auch gesehen hast, aber da war jemand der mich angestarrt hat. Ich habe gelogen, als Seungmin gefragt hat, ob wir uns kennen. Es war die Person, die mir in die Gasse gefolgt ist, nachdem die Fangirls gekommen sind und er war auch derjenige, der Jeongin verprügelt hat." Nach den letzten Worten musste ich unerwartet schlucken und einen Moment durchatmen, bevor ich fortfuhr. "Der Täter war nicht irgendjemand. Ich kannte ihn die ganze Zeit über. Es tut mir so leid, dass ich es euch verschwiegen habe, obwohl ich das als eure Freundin eigentlich nicht hätte tun sollen."
Wir bogen nach links auf einen anderen Pfad ab, welcher zu einer asphaltierte Stelle zwischen Bäumen und Sträuchern führte. An seinen Seiten verlief ein kleiner Bach, dessen leises Plätschern die Situation etwas entspannte. Warme Sonnenstrahlen schienen uns in den Rücken, während wir den kleinen Platz überquerten und auf einen weiteren grünen Weg zusteuerten. "Wie heißt er?", wollte Chan schließlich wissen. Meine Hände hörten sofort zu kneten auf, als ich seinen Blick bemerkte. Ich hatte ihn noch nie so ernst gesehen. Zu diesem Zeitpunkt versprühten seine Augen eine Humorlosigkeit, die ich nicht erwartet hatte, jemals von ihm zu spüren zu bekommen. Ich wandte schnell den Blick ab.
"Versprich mir, dass du niemandem von all dem erzählen wirst.", fand ich dann meine Sprache wieder. Zwar hatte ich Vertrauen in Chan, aber ich musste sichergehen, dass niemand außer ihm davon erfahren würde. Den anderen Jungs wollte ich nichts aufbürden, da sie so beschäftigt mit ihrem Training waren, allerdings waren Shiwons Worte immer noch der Hauptgrund, weshalb ich es nicht wagte. Jeongin und Chan würden die einzigen bleiben, die davon wussten, dass Shiwon Jeongin seine blauen Flecken zugefügt hatte. Und Jeongin musste der einzige bleiben, der wusste, was der Grund für...
"In Ordnung.", riss mich Chans Stimme aus meiner Starre. Mit einem tiefen Atemzug hob ich den Kopf an und sah vor mich. Mein Mund öffnete sich dabei wie von selbts: "Sein Name ist Shiwon. Yun Shiwon. Er geht auf dieselbe Schule wie ich, ist aber in der zwölften Klasse." "Was wirst du unternehmen?", kam es keine Sekunde später zurück.
Was ich nun tun würde?
Diese Frage war mittlerweile ein Teil meines Alltags geworden. Der Farbton, welchen mein Leben gerade entschied anzunehmen, war etwas, das ich nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Nie hatte ich gedacht, dass sich mir einmal Probleme und Sorgen in den Weg stellen würden, wie sie es heute taten. Und deswegen musste ich jetzt vorsichtig sein und durfte keine zu großen Schritte wagen - sonst würde noch jemand dafür die Konsequenzen tragen müssen.
"Mir ist klar, dass ich eigentlich damit zur Polizei gehen müsste, aber das kann ich nicht.", äußerte ich mich. "Egal, was das für einen Eindruck macht. Ich werde nichts unternehmen."
Nach dieser Aussage machten wir halt, denn zusammen hatten wir den Park fast ganz durchquert und es gab nur noch den Spielplatz, der uns von den überfüllten Straßen trennte. Auf der Stufe zum Sandkasten ließen wir uns nacheinander nieder. Die Bänke am Rand waren von Eltern und alten Menschen besetzt, deren Kinder oder Enkelkinder hier fröhlich herumtobten. Ob auf den bunt gestrichenen Geräten oder zwischen Sand und Regenwürmern - für alle von ihnen bestimmt ein großes Abenteuer.
Chan rupfte ein paar Grashalme von außerhalb des Sandkastens. "Warum hast du mir oder einem der Jungs nicht früher davon erzählt?", fragte er daraufhin. Er wirkte nun nicht mehr so ernst - ein emttäuschter Ton schwang in seiner Stimme mit.
Ich schluckte erschrocken und voller Schuldgefühle.
Wie sollte ich ihm jetzt Auskunft geben? Ich konnte ihm unmöglich von dem Spiel und Shiwons Drohung erzählen.
"Ist dieser Yun auch dafür der Grund?", deutete er an, nachdem ich geschwiegen hatte. Es war offensichtlich. Alles was ich von mir gegeben hatte, ließ genau darauf zurückschließen. Ich hatte sogar preisgegeben, dass Shiwon mir in die Gasse gefolgt war und dann hatte ich Chans Erkundigung, ob ich etwas unternehmen würde, verneint. Kein Wunder, dass er etwas erahnte.
Am liebsten hätte ich mir in diesem Moment einfach nur in den Bauch geboxt, so aufgebracht und wütend war ich. Jetzt würde ich gezwungen sein ihm wahrheitsgemäß zu antworten, weil das Verneinen dieser Frage nicht zur Option stand. Insgeheim musste er schon wissen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
"Das ist etwas zwischen ihm und mir.", sprudelte es aus mir heraus. "Und das muss ich selbst regeln und zurechtbiegen. Es tut mir um Jeongin leid, allerdings kann noch nicht für Gerechtigkeit gesorgt werden. Noch nicht zu diesem Zeitpunkt."
Für einige Sekunden vernahm man nur das Geschrei und Lachen von Kindern, bis dann etwas anderes unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Zuerst dachte ich es wäre mein Handy gewesen, doch schnell fiel mir wieder ein, dass ich es Zuhause gelassen hatte. Chan fischte sein Telefon aus der Tasche seines Kaputzenpullovers und nahm nach einem Blick auf den Bildschirm den Anruf entgegen. "Annyeong?", sprach er in das Gerät hinein. Nach einer kurzen Pause: "Was ist los?" Während er telefonierte, traute ich mich wieder zu ihm zu schauen, da er mit dem Telefonat beschäftigt war und statt zu mir in das Grün starrte. "Ye. Ich beeile mich.", waren seine letzten Worte. Danach ließ er sein Handy sinken und sprang auf. Verwundert folgte ich seiner Bewegung.
"Ich muss gehen. Die Pause ist schon etwas länger vorbei und die Jungs warten auf mich.", erklärte er mir, woraufhin mein fragender Gesichtsausdruck verschwand.
Die Zeit hatte ich auch vollkommen vergessen! Ich hätte etwas mitdenken sollen, damit er sich jetzt nicht abhetzen müsste.
"Oh.", verließ es mich. "Dann solltest du wirklich los." Mit einem Atemzug begab ich mich in die Waagerechte und machte eine schnelle Verbeugung. "Tto mannayo, Chan." Als ich aufsah war er bereits losgegelaufen und verschwand in der Ferne.
Stumm fiel ich zurück auf den Sandkastenrand - die Hände immer noch in den Jackentaschen vergraben und die Beine an den Körper gezogen. Irgendwie fühlte ich weniger Erleichterung, als ich erwartet hatte, aber wenigstens wusste nun jemand von der Person, die für all meine Probleme und Sorgen verantwortlich war. Chan anzurufen war eine gute Entscheidung gewesen. Dass ich noch seine Mütze trug, obwohl er bereits gegangen war, kam mir nicht in den Sinn und das sollte mir an diesem Nachmittag auf dem Spielplatz auch nicht mehr einfallen. Es gab viel zu viel, über das ich nachzudenken hatte.

Entschuldigung für die Verspätung. Ich hoffe trotzdem, dass es euch gefallen hat. Feedback ist jederzeit erwünscht! Wir lesen uns^^

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now