21

3.7K 186 34
                                    

Wie sich herausgestellt hatte, waren die Stunden, welche ich gestern länger aufgeblieben war, wirklich zu viele gewesen. An diesem Morgen hatte es drei Tassen schwarzen Tee gebraucht, um mich einigermaßen zurechnungsfähig zu bekommen. Mein Vater hatte nicht gezögert mich mehrmals zu ermahnen und obwohl ich einen Grund für mein langes Aufbleiben gehabt hatte, war ich nicht gewillt gewesen, ihm eine Erklärung dafür zu geben. Ich hatte lediglich vor dem Esstisch gehangen und müde, aber glücklich an meiner Tasse genippt und mir, wie befohlen, den Reis in den Mund geschaufelt. Eins war klar: Ich würde definitiv nicht noch einmal bis so spät meine Hausaufgaben machen, auch wenn ich sie am nächsten Tag abgeben musste. Dann erledigte ich sie halt morgens, in der Pause oder teilte mir den Nachmittag besser ein. Vielleicht war ich aber auch einfach so müde, weil der vergangene Tag so vollgestopft gewesen war. Ja, das klang logisch. Immerhin war ich schon einmal bis spät Nachts aufgeblieben und hatte beim Aufstehen nicht ausgeschaut wie eine Wasserleiche.
Jetzt, auf jeden Fall, ging es mir viel besser. Wahrscheinlich hatte mein Körper nur ein wenig Zeit gebraucht, damit er wieder voll funktionstüchtig war. Zumindest erinnerte mein Äußeres nicht mehr an das eines Untoten, was ich einer Viertelstunde vor dem Spiegel zu verdanken hatte, und auch geistig schien alles wieder beim alten zu sein. Die gekrümmte und erschöpfte Haltung vom Frühstück jedoch, würde während des Schultages vermutlichen zurückkehren. Aber das war einem mit den unbequemen Stühlen hier nicht unbekannt.
Das Holz der alten Bank knarzte leise, als ich mich wie immer, wenn ich zu früh da war, auf ihr niederließ. Die vor dem Schulgebäude wartenden Schüler und das Vogelgezwitscher waren dieselben. Selbst der Himmel zeigte dasselbe Blau, aber es hatte sich etwas verändert. Ich saß nicht länger hier als ein Einzelgänger. Nun war ich Mitglied einer Gruppen von Jugendlichen, die ein beängstigendes Spiel spielten und ich war gegen mein Willen in all das mit hineingeraten. Es fühlte sich auf dieser Bank nicht mehr an wie früher. Sie war nur ein weiterer Teil der Schule, den ich bei Unterrichtsende schleunigst hinter mir lassen wollte.
Während ich in die Ferne blickte, verblasste alles andere vor meinen Augen. Ich erwachte erst aus meiner Starre, als sich in meinem Augenwinkel etwas regte.
"Heute ist ein ganz besonderer Tag, nicht wahr?", kam es von niemand geringerem als Yun Shiwon, dem wahrscheinlich schlimmsten aller Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Er ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer neben mir fallen und legte seinen Arm um meine Schulter. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass er diese Art von Körperkontakt anwandte, ließ es mich zusammenzucken. Mein Atem wurde unregelmäßiger und mein Herzschlag begann wieder Marathon zu laufen. Die Reaktion meines Körpers auf seine Berührungen, entsprach längst nicht mehr meinen Empfindungen. Gänsehaut und blasse Haut kamen von alleine, meine Gedanken drehten sich dabei allerdings um etwas klomplett anderes. Diese Situation erschütterte mich bis ins Knochenmark. Vor fast einer Woche hatte sich alles genauso abgespielt. Genau so, bis auf die Tatsache, dass ich aufgesprungen war und ihn angezischt hatte - "Fass mich nicht an." - und nicht sitzenblieb. Auf einmal fühlte ich mich unglaublich dumm. Ich hatte mich gewehrt und es hatte nichts gebracht. Vielleicht hätte ich es von Anfang an lassen sollen und akzeptieren sollen wie es nun einmal war. Dann würde ich mich nicht ganz so mieß fühlen, was mein gescheitertes Vorhaben anging. Irgendwann würde ich hier aber wieder alleine sitzen. Wenn das alles vorbei war...
"Nicht nur, weil heute besprochen wird, wie es weiter geht. Bald steht auch die nächste Runde an.", fuhr er fort. Beinahe hätte ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckt. Dass seine Aussage über den heutigen Tag nicht ernst gemeint gewesen war, obwohl das Wetter wirklich schön war, hatte ich von Anfang gewusst. Der Grund für seine gute Laune hatte mich dann aber unerwartet getroffen. Und als ich realisierte, was diese Worte zu bedeuten hatten, verschwand jegliche restliche Farbe aus meinem Gesicht.
Shiwons Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt: "Dachtest du etwa, dass alles so bleibt wie es bis zu diesem Zeitpunkt war?" Ich schluckte, aufgrund von aufkommender Übelkeit. Um genau zu sein, hatte ich mir eben das die ganze Zeit erhofft und nun war der Moment gekommen, in dem ich mich mit der Realität auseinander setzen musste. Das herablassende Lachen, das neben mir ertönte, machte es nicht angenehmer. Leider war es nicht möglich, mich zurück nach Hause und unter meine warme Bettdecke zu wünschen, sonst hätte ich dies wahrscheinlich schon vor einigen Tagen getan.
Mein Sitznachbar erhob sich, ohne mich noch einmal eines Blickes zu würdigen. Er wusste, wo er stand - wie er mit mir umgehen konnte, nachdem er mich unter seine Kontrolle gebracht hatte. "Steh auf.", sagte er. Das Sarkastische hatte seine Stimme verlassen und er klang wieder so wie an jedem anderen Tag. Ich protestierte zwar innerlich, tat jedoch was er wollte. Solange er meine Freunde in Ruhe ließ und sich seine Drohungen nicht vermehrten, würde ich sein Püppchen spielen. Daran, was passieren würde, wenn ich nicht gehorchte, wollte ich gar nicht denken.
Mit geballten Fäusten folgte ich ihm in Richtung Schule.

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now