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Aufgebracht fuhr ich mir durchs Haar. Die Stille im Zimmer war unerträglich.
Seit dem gestrigen Abend hatten mein Vater und ich kein einziges Wort mehr gewechselt. Er war, nachdem wir das Krankenhaus verlassen hatten und von seinem Chauffeur nach Hause gebracht worden waren, sofort in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Hatte die Zimmertür so feste zugeschlagen, dass selbst meine eigene in ihren Angeln erbebt war. Ich hatte ihm nicht einmal eine Erklärung auftischen können, obwohl es für das, was ich getan hatte, wahrscheinlich gar keine Erklärung gab. Auch eine Entschuldigung, egal wie man sie formuliert hätte, hätte in dieser Situation nicht geholfen. Und das war mir durchaus bewusst, denn je mehr Zeit verstrich, desto nervöser wurde ich.
Ich wollte mich entschuldigen, musste mich entschuldigen. Das beklemmende Gefühl in meiner Brust ließ es nicht anders zu. Trotz der Angst den Raum zu verlassen und meinem Vater, welcher bereits am Küchentisch saß, gegenüber zu treten, ergriff ich das kalte Metall der Türklinke. Ganze fünfzehn Minuten hatte ich schon vor meiner Zimmertür gestanden und das waren definitiv fünfzehn Minuten zu viel. Es spielte keine Rolle, welche Strafe ich für mein Verhalten bekommen würde und mit welchem Ausdruck in den Augen mein Vater mich betrachten würde - irgendwann wäre ich sowieso gezwungen gewesen mein Schlafzimmer zu verlassen.
Stäbchen klimperten und Geräusche von vorbeifahrenden Autos, waren zu vernehmen, als ich den Flur verließ. Wie immer strömte helles Licht durch das Balkonfenster, welches - an diesem Morgen geöffnet - auch frische Luft hereinließ. Den Geruch nach Fliesenreiniger entschärfte der Überfluss an Sauerstoff leider nicht.
Durch den Lärm, der vom offenen Fenster ausging, erreichte ich den Esstisch, ohne dass mein Vater vorher aufschaute. Er schien erst zu bemerken, dass ich anwesend war, als ich mich auf der anderen Seite des Tisches niederließ.
"Guten Morgen.", murmelte ich gerade noch verständlich. Meine gefalteten Hände verschwanden unter der Tischkante. Mit gesenktem Blick begann ich sie zu kneten.
"Guten Morgen.", begrüßte mich mein Vater und legte kauend sein Besteck beiseite. "Willst du etwas Essen?"
Ich hob den Kopf etwas an, um in sein Gesicht schauen zu können. Der erschöpfte Ton in seiner Stimme hatte also nicht gelogen. Es war bedrückend, ihn in solch einer Verfassung zu sehen. Weder die dunklen Ringe unter seinen Augen, noch seine abgeschlaffte Körperhaltung zeugten davon, dass er diese Nacht geschlafen hatte.
Mir ging es nicht unähnlich. Nach den gestrigen Ereignissen hatte ich, wie lange ich es auch versucht hatte, nicht zur Ruhe kommen können. Shiwons Worte waren mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen und ließen jetzt noch eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper entstehen, aber es waren nicht nur seine Worte, die mich bis spät in die Nacht verfolgt hatten. Seine Berührungen, welche Flecken auf meinem Körper hinterlassen hatten, konnte ich ebenfalls nicht vergessen. Abdrücke von Händen und Lippen an Hals und Schlüsselbein, die ich heute mit Hilfe eines Schals versteckte, waren ihre Rückstände. Sie waren aber gewiss nicht meine einzige Sorge. Es gab eine Person, an die ich seit dem Verlassen des Krankenhauses am Vortag denken musste - Jeongin. Ob er aus dem Krankenhaus entlassen worden war und sich die Jungs richtig um ihn kümmerten, wusste ich nicht. Und dieses Unwissen trieb mich immer und immer weiter in den Wahnsinn.
"Nein, ich habe keinen Appetit.", antwortete ich. Mir war nicht danach, eine Mahlzeit zu mir zu nehmen. Die beklemmenden Gefühle in meiner Brust und meiner Magengegend nahmen viel zu viel Platz ein, um noch eine Portion Reisbrei hinein zu schaufeln.
Mit Bewunderung musste ich jedoch feststellen, dass meine Vater mir dieses Mal keine Predigt darüber hielt, wie ungesund es doch sei, das Frühstück auszulassen. Er war wohl selbst zu sehr in Gedanken vertieft.
"Appa, ...", ergriff ich das Wort. Meine schwitzenden Hände kneteten weiter. Ich hatte entschieden, mich hier und jetzt zu entschuldigen und ihm die Wahrheit zu sagen. Ihm von allen Lügen zu erzählen, mit denen ich mich rumschlagen musste, weil ich ihr belastendes Gewicht nicht länger auf meinen Schultern tragen mochte. Außerdem wollte ich, dass alles wieder wie früher wurde, als ich Stray Kids noch nicht gekannt hatte. Zumindest das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir sollte wieder wie damals sein. Doch dafür musste ich zuerst einmal eine richtige Verbindung zu ihm herstellen und diese baute darauf, dass ich ihm von allem berichtete, was mir auf dem Herzen lag.
"... es tut mir leid. Ich weis, ich habe widerrechtlich gehandelt und somit in Gefahr gebracht, was wichtig ist. Es gibt wahrscheinlich nichts, mit dem ich das wieder gutmachen könnte, aber gib mir wenigstens die Chance dich wissen zu lassen, dass ich es bereue."
Bevor ich anfing, ihm alles zu verraten, betrachtete ich ihn noch einmal genau.
"Das erste Mal, das ich dich angelogen habe, war am Tag, an dem du mich gefragt hast, ob ich deinen Rat befolgt habe. Am Sonntag, nachdem ich nach Hause gekommen bin und du wissen wolltest, weshalb ich zu spät war, habe ich ebenfalls nicht die Wahrheit von mir gegeben. Beide Male habe ich Stray Kids getroffen und am Sonntag bin ich sogar bei ihnen gewesen, um einen Film zu schauen. Ein paar Male habe ich sie auch in einem Café in der Nähe vom JYP-Gebäude getroffen.
Die letzten Tage war ich aber nur einmal bei ihnen und gestern, wie du wahrscheinlich gemerkt hast, mit ihnen zusammen draußen.
Es war dumm von mir, die Geheimhaltung meiner Identität aufs Spiel zu setzen und dich anzulügen, es tut mit leid.", erklärte ich. Die Begegnung mit Shiwon ließ ich dabei bewusst aus, denn von dem, was am vorherigen Abend in der Gasse passiert war, hätte ich ihm nie und nimmer erzählen können. Dazu wäre ich nichtmal im Traum fähig gewesen. Doch es machte keinen Unterschied, ob ich es aussprach oder nicht. Ich hatte ihm von allen Lügen, die ich ihm aufgetischt hatte, erzählt und solange er nicht hinterfragte, weshalb wir gestern im Krankenhaus gewesen waren, würde es auch keine weiteren Lügen geben.
Einerseits war ich unglaublich erleichtert, den richtigen Weg gefunden zu haben und die Entfernung zwischen uns ein Stück verkleinert zu haben. Andererseits machte ich mir Sorgen darum, wie es nun weitergehen würde. Nicht nur mit ihm, sondern auch mit Stray Kids. Würde ich sie überhaupt wiedersehen dürfen? Immerhin war heute der letzte Tag, an dem der Tanzraum bei JYP für mich zur Verfügung stand und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn ich an einem Tag dort mal nicht auf Stray Kids traf. Zudem würde ich alleine niemals auf die Idee kommen ihnen unter die Augen zu treten oder sie gar zu treffen. Zum einen weil ich somit erneut aufs Spiel setzen würde, was wichtig war und zum anderen weil sie nun wussten, dass ich auch sie belogen hatte.
"Ich habe lange nachgedacht, Kairi.", berichtete er. Bevor er fortfuhr, nahm er sich den Reisbrei, auf den ich bewusst verzichtet hatte. Beim Auffüllen seiner Schüssel, begann er zu sprechen: "Es stimmt, ich bin enttäuscht von dir, aber ich glaube auch, dass ich zu streng mit dir war."
Blitzschnell lösten sich meine Hände voneinander und ergriffen stattdessen die Tischkante. Wie kam es dazu, dass er auf einmal seine Meinung änderte? Was hatte das zu bedeuten?
"Streng? Ich bin, ohne über größere Folgen nachzudenken, eine Freundschaft mit einer Boy-Group eingegangen. Du hast doch gesagt...", protestierte ich, wurde jedoch von ihm unterbrochen. "... dass ich es nicht toleriere, ich weiß und genau darüber habe ich gestern nachgedacht."
Das erste Mal seit langem sah er mir für einen längeren Zeitraum in die Augen und ich glaubte schon die Spannung zwischen uns sei gänzlich verschwunden. Nun, als ich mir eingestand, einen Fehler begangen zu haben, schien es, als würde mein Vater sich dafür entschuldigen. Wo ich verstand, dass mein Vater das alles nur für mein Wohl getan hatte, behauptete er etwas vollkommen anderes. Ich hatte mit allem gerechnet: mit einem Verbot, Hausarrest oder einem weiteren großen Streit, doch keine meiner Vermutungen, wie dieses Gespräch ausgehen würde, traf zu.
"Ich habe entschieden, dich selbst entscheiden zu lassen.", fasste er sich kurz.
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke, woraufhin ich begann stark in meine Armbeuge zu husten. Mit tränenden Augen wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Vater zu. "Was?", brachte ich trotz meines vom Husten brennenden Halses hervor.
Mein Gegenüber seufzte. "Ich zweifle schon lange daran, dass es noch irgendeinen einen Sinn ergibt, so weiter zu machen. Ich war auch einmal in deinem Alter und ich wollte auch Freunde haben. Hatte und habe immer noch welche, obwohl ich so viel arbeite. Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass dir so etwas nicht vorenthalten werden sollte. Auch wenn ich dich lieber von den Medien fern halten würde, egal was es erfordert, muss ich mir eingestehen, dass es weder einfacher für dich, noch einfacher für mich wird, je älter du bist.
Deine Mutter und ich sind schon lange geschieden und ich habe das alleinige Sorgerecht für dich erhalten. Deswegen denke ich, kann ich unsere Pläne für dich abändern und dir die Wahl überlassen, ob du als meine Tochter bekannt sein willst oder nicht. Aber merkt dir eins: Aufmerksamkeit und Bekanntheit sind nicht immer so toll, wie man sie sich vorstellt."
Zum Schluss wurde seine Stimme ernster, was bewirkte, dass ich seine Worte bis ins Knochenmark aufnahm. Niemals hätte ich erwartet, ihn so etwas sagen zu hören.
Dies war wahrscheinlich eine der bedeutendsten Veränderungen in meinem Leben nach der Trennung meiner Eltern und dem Kennenlernen von Stray Kids, doch mir war bewusst, dass ich es nicht direkt zu einer solchen ausarten lassen würde. Obwohl ich nun jegliche Freiheiten besaß, was die Geheimhaltung meiner Identität und Freundschaften mit Idolen anging, wollte ich nichts überstürzen. Den derzeitigen Tagesablauf, den ich führte, wollte ich gerne behalten und auch mein Einzelgänger-Image in der Schule konnte gerne eins bleiben, obwohl ich vor einer Woche wahrscheinlich noch anders darüber gedacht hätte. Immerhin hatte ich die Jungs... nein, das wusste ich gar nicht mehr. Es könnte vorbei mit uns zehn sein, nachdem sie erfahren hatten, dass ich ihnen die ganze Zeit verschwiegen hatte, wer mein Vater war. Ob sie mir verzeihen konnten? Wohl kaum. Wäre ich jemand anderes gewesen, hätte ich mir auch nicht sofort verziehen. Nicht zu vergessen, wie schlecht ich mich selbst fühlte. Ich sollte sie besser selbst entscheiden lassen, so wie mein Vater es bei mir getan hatte. Sie sollten selbst wissen, ob sie weiterhin meine Freunde sein wollten oder auf jemanden wie mich verzichten konnten. Eine Sache aber musste ich noch erledigen. Egal wie unwohl mir bei dem Gedanken wurde, ihnen einen Besuch abzustatten, ich musste nach Jeongin sehen.
"Gehst du heute noch trainieren?", kam es gedämpft von der anderen Seite des Tisches. Die Kaffeetasse verließ seine Lippen und landete wieder auf dem Holz. Ich stammelte. Erst jetzt fiel mir ein, dass ja morgen das Vortanzen war. Zumindest hatte ich es für ein paar Sekunden komplett aus meinem Gedächtnis verbannt. "Ja, das hab ich ganz vergessen.", antwortete ich. "Am besten gehe ich gleich los, damit ich schnell fertig bin. Ich muss heute auch unbedingt noch...", meine Stimme versagte, wodurch ich meinem Vater einen verwunderten Blick entlockte.
Ich durfte Jeongin doch besuchen, oder? Bestimmt, er hatte mir vergänglich ja nur nicht erlaubt eine Freundschaft mit ihnen einzugehen, weil meine Gesicht dadurch womöglich an die Medien hätte gelangen können. Ohne dieses Problem aber, stand doch nichts zwischen ihnen und mir. Er hatte einmal sogar selbst behauptet sie seien nette Jungs - eine Beweis dafür, dass sie keinen schlechten Ruf bei ihm hatte. Eigentlich nicht anders zu erwarten, da sie eine seiner erfolgreichen Boygroups bildeten.
"Was ist los? Hast du eine Fliege verschluckt?", wollte mein Vater mit erhobenen Augenbrauen wissen.
Trotz seiner vorherigen Aussage, über meine zukünftige Freiheit bei der Wahl meiner Freunde, traute ich mich nicht Stray Kids vor ihm zu erwähnen. Gott sei dank, war mir früh genug eingefallen, dass ich, sobald ich Stray Kids erwähnte, nur dafür sorgen würde, dass er vielleicht den gestrigen Abend ansprach. Lieber zögerte ich dies hinaus, sodass er irgendwann die Jungs selbst fragte, wenn er das letzte Nacht nicht bereits über das Telefon getan hatte. Sie waren immerhin nur darüber informiert, dass wir von einem Typen angegriffen worden waren, der Jeongin verprügelt hatte. Mehr sollten sie auch nicht wissen.
Mein Vater stapelte die leeren Schüsseln aufeinander und knüllte das benutzte Papiertuch in seiner Hand zusammen. Blitzschnell sprang ich auf und bewegte mich zur anderen Tischseite. "Ich mach das.", teilte ich ihm mit. Verwundert schaute er zu mir auf, ließ mich dann allerdings gewähren, sodass ich mich mit dem Geschirr auf dem Arm in Richtung Küche begab. Im Augenwinkel bekam ich zufriedengestellt mit, wie mein Vater sich erhob und auf den Weg in sein Zimmer machte. Jede Kleinigkeit, die ich jetzt für ihn tun konnte, half mit dazu bei, dass ich ein weniger schlechtes Gewissen hatte und sich alles wieder zum Alten wendete.
Der Grund weshalb ich nun jedoch ziemlich in Eile war - die Schüsseln unachtsam in die Spülmaschine schmiss - , war ein anderer. Wenn ich Stray Kids noch vor dem Tanztraining erwischen wollte, musste ich mich in Bewegung setzen und schnellst möglich den nächsten Bus zu ihrem Dorm nehmen. Denn sie hatten heute bestimmt auch irgendwann training und falls nicht, wäre es sowieso besser gewesen den Besuch schnell hinter mich zu bringen, um deswegen nicht ständig wieder in Gedanken zu verfallen.
Bevor ich dann die Wohnung verließ und meinen Vater mit einem lauten "Jal isseo" verabschiedete, packte ich noch meine Trainingstasche und putzte mir, obwohl ich nichts gegessen hatte, die Zähne. Dabei ließ ich nicht unbewusst eine kleine Papierschachtel aus dem Badezimmerschrank mitgehen.

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now