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Es waren neun lange Schulstunden vergangen, in denen ich nicht hatte aufhören können, an Chan zu denken und wahrscheinlich fiel mir aufgrund der ganzen Schwärmerei erst ein, dass ich mir um ganz andere Sachen sorgen zu machen hatte, als die Schulglocke leutete.
Chan hatte am Vortag gestanden, ebenfalls mehr für mich zu empfinden. Aber genauso hatte mich auch Shiwon aufgesucht und vermutlich würde dieser schon bald wieder in meiner Nähe auftauchen.
Er war vor kurzem nach Seoul zurückgekehrt, nahm, wie ich glaubte, seit diesem Morgen am Unterricht teil und musste ziemlich wütend auf mich sein. Ich hatte ihm am Vortag nämlich nicht nur die kalte Schulter gezeigt und ihn einfach auf der Straße stehen lassen. Mein Vater hatte mir gleich beim Frühstück mitgeteilt, nun wegen der Sache mit der Jeongin und Yun vor Gericht zu gehen.
Zwar hatte sich Shiwon noch nicht in diesem Stockwerk bemerkbar gemacht - er wollte wohl zuerst seine Handlanger begrüßen -, doch ich spürte, dass der Tag bis zu diesen Zeitpunkt viel zu gut verlaufen war. Von der Meldung bei der Polizei hatte er zweifelsohne mitbekommen.

Nervös blickte ich mich im Gang um, während der Rest der Schüler aus den Klassenräumen strömte und sich entweder auf den Weg nach Hause oder in eins der privaten Bildungsinstitute machte, um weiter zu lernen. Manche von ihnen würden allerdings nur den Klassenraum wechseln und hier bleiben, da diese Schüler zuerst an Zusatzstunden in der Schule teilnahmen.
Anfangs dachte ich noch, es würde funktionieren, das Schultor zu passieren, ohne von den Krösuskindern entdeckt zu werden, doch dann endeckte ich sie auf dem Schulhof und änderte sofort meine Richtung, weg von den Fahrradständern vor dem Schultor.
Wie hatte er es bloß geschafft, dass gleich alle von ihnen ihn wieder umringten? Es waren zu viele, als dass ich unbemerkt an ihren ausschweifenden Blicken hätte vorbeilaufen können.
Nicht das ich Angst hatte, aber ich wollte keine Schlägerei anzetteln, nur weil ich nicht mit ihnen mitgehen wollte oder weil ich mir Shiwons Worte einfach nicht gefallen ließ. Vor allem nicht wenn sich so viele meiner Mitschüler in der Nähe befanden.
Sie warfen mir schon wegen der Sache mit meinem Vater und der Freundschaft mit Stray Kids merkwürdige Blicke zu, sodass ich keine Gerüchte über mich und die Krösuskinder gebrauchen konnte. Nachher behauptete man, ich hätte Stress mit den falschen Leuten und wäre kein guter Umgang für Stray Kids. Außerdem musste ich darauf achten, meinen Vater und seine Position nicht durch einen einfachen Streit zu verschlechtern. Er durfte nicht in eine Sache hineingezogen werden, von der ich ihm nie richtig erzählt hatte.
Entschuldigend drängte ich mich durch die Massen, die sich ihren Weg durch die Eingangstür des Schulgebäudes bahnten und versuchte die genervten Kommentare der mir entgegen kommenden Schüler größtenteils zu ignorieren.
Vielleicht sollte ich einfach für eine Weile in der Bibliothek verschwinden, bis die Krösuskinder sich selbst auf den Acker machten. Dort gab es eine Aufsicht und bestimmt tat mir ein wenig lernen ja auch gut (bei den vielen Unterrichtsstunden, in denen ich heute aufgrund der fehlenden Konzentration nicht aufgepasst hatte!).
Bei dem Gedanken daran, musste ich schmunzeln. Endlich musste ich nicht mehr über meine Gefühle für Chan nachdenken, nachdem ich ihm diese gestanden hatte.
Ich bereute es nicht mehr, ihm einfach diese bedeutungsvollen Worte an den Kopf geworfen zu haben, denn anders hätte ich wahrscheinlich nie erfahren, was er empfand. Es war schön, jemanden wie ihn zu haben, wenn man sonst in der Schule nur von merkwürdigen Leuten umgeben war. Er war der ruhige und verantwortungsvolle Typ unter den Jungs und bewirkte, dass ich nicht ganz vergaß, wer ich doch eigentlich war. Und damit kam dann das nächste Problem: Wie sollte ich den Jungs davon berichten, was sich gestern ereignet hatte? Wie sollten wir das tun? Und was war mit meinem Vater?
Ich drehte den fast leeren Kugelschreiber zwischen meinen Fingern, während mir diese Fragen im Kopf herum schwirrten. Als mir also bewusst wurde, dass ich nicht konzentriert war und bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fabriziert hatte als im Unterricht zuvor, klappte ich das Buch zu. Aufgebracht sah ich mich im Raum um. Die vielen Regale machten einen ganz unruhig, wobei mir das Geschnarche vom Schüler zu meiner Linken auch nicht weiter half. Er war schon vor wenige Minuten eingeschlafen und nun wusste ich wieder, weshalb ich nie herkam. Zuhause konnte ich besser lernen, es war ruhiger und ich musste keine Angst davor haben, ins Schnarchen einzuklingen oder dass der Sabber, der meinem Sitznachbarn beim Schlafen aus dem Mund lief, irgendwie und irgendwann Kontakt mit mir aufnahm, weil er über den gesamten Tisch gelaufen war.
Seufzend holte ich mein Handy hervor. Ob die Krösuskinder schon gegangen waren? Laut der Uhr auf dem Startbildschirm meines Smartphones waren bereits knappe 30 Minuten vergangen...
Ich entschied, einen Versuch zu wagen. Der schnarchende Schüler zu meiner Linken, schnarchte weiter laut vor sich hin, selbst als ich den Stuhl unbeabsichtig über den hölzernen Boden zog und ein schrilles Quitschen verursachte. Die Schreibuntesilien waren dagegen beinahe lautlos in meinem Rucksack verschwunden, den ich mir daraufhin über die Schulter warf. Im Gegensatz zu den fleißigen Schülern an den befüllten Tischen hatte ich es heute nicht zu vielem geschafft. Hoffentlich war das jetzt nicht immer so, sonst würde ich tatsächlich verstehen können, weshalb unser Schulleiter das Daten unter Schülern verboten hatte.
Auf den ersten Blick schien der Flur hinter der Eingangstür der Bibliothek passierbar zu sein. Es herrschte Stille und keine Menschenseele war zu sehen. Bis ich es zum Treppenhaus geschafft hatte, blieb das auch so, doch dann vernahm ich plötzlich eine Stimme von einem der unteren Stockwerke. "Sie hat echt keine Ahnung, was sie sich da eingebrockt hat.", Schritte wurden lauter. "Du sagst es. Ich werde sie fertig machen, wenn sie uns das nächste Mal unter die Augen tritt." Yejun und Sarang, das bekannte Duo, kamen nun die nächsten Stufen nach oben gestiegen, woraufhin ich mich endlich regte. Sie würden mich definitiv nicht so einfach davon kommen lassen, wenn sie mich erst einmal zu Gesicht bekamen. Also zählte ich meine Fluchtmöglichkeiten ab, bevor ich mich bereits wieder in Bewegung setzte.

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now