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Das Rauschen der Bletter hüllte mich in eine Art Tagtraum versetzt, als ich auf der Bank unter dem einen Baum darauf wartet, dass endlich fünfzehn Minuten vergangen waren. Und selbst wenn ich den kalten Wind in meinem Hinterkopf vergaß und an schönere Tage, besseres Wetter und wärmere Gefühle dachte, dauerte es eine Ewigkeit, bis mein Handy endlich ein eingetroffene Nachricht ankündigte. Ich sah auf den Sperrbildschirm des Smartphones und erkannte, dass tatsächlich knappe sechzehn Minuten vergangen waren. Deshalb nahm ich einfach sofort an, dass sie wirklich angekommen waren und lief los, ohne vorher überhaupt die Nachricht zu checken.
Meine Harre waren bereits ein bisschen trockener geworden, obwohl sie aus der Nähe immer noch einen feuchten Eindruck machten, doch meiner Schuluniform würde man sofort ansehen, dass sie wohl nicht ganz so sparsam mit Wasser beschüttet worden war. Die Bluse war noch etwas durchsichtig und der Rock noch immer etwas dunkler als sonst. Ich hoffte, es würde den Jungs nicht so schnell auffallen, wie ich befürchtete, denn ich wollte ihnen ungern von den Details dieses Vorfalls erzählen. Es mochte stimmen: Sie anzurufen, war genau so blötsinning gewesen, wie zu hoffen, sie würden meinen momentanen Zustand nicht bemerken. Ich hätte sie zu aller erst nicht kontaktieren dürfen, da ich sie so nur wieder in etwas mit hineinzog, mit dem sie nicht zutun haben sollten und zweitens weil ich stark sein wollte. Aber wie konnte ich jetzt nur stark sein? Sie kannten mich zu gut und ich glaubte, nicht alleine aus dem Loch herauszukommen, in welches ich soeben hinein gefallen war. Ich fühlte mich abgrundtief und nicht so, als könnte ich den Nachmittag alleine in meinem Zimmer verbringen, ohne auf dumme Gedanken zu kommen. Deswegen hatte ich sie angerufen, mitten im Geschehen. Und jetzt wo es vorbei war, wollte ich wieder niemandem die Chance geben, zu erfahren, wie kläglich ich versagt hatte.
Die Gefühle in meinem Bauch spielten genauso verrückt wie meine Gedanken. Ich herhob mich schwankend. Meine Knie glichen den eingerosteten Gelenken einer alten Maschine - ich hatte garnicht wargenommen, wie mein ganzer Körper vor Kälte auf einmal ganz steif geworden war. Und hätte ich es nicht so eilig gehabt, den Abstand zwischen mir und der Bank schnellsten zu vergrößern, hätte ich dem Brummen in meinem Kopf und das aufkommende Schwindelgefühl vielleicht nicht einfach ignoriert.
Zumindest mein Orientierrungsinn schien noch zu funktionieren, sodass ich innerhalb einer halben Minute die Sporthalle und Sportplätze umrundet und mich dem Tor genähert hatte, durch das nun keine Menschenmasse mehr hasteten. Niemand außer dem Kontrolör am Schultor und drei gestalten außerhalb des Zauns waren zu sehen.
Die drei Personen hinter den Gittern hatten mir ihre Rücken zugewandt, doch ich wusste aus irgendeinem Grund, dass es sich bei den beiden auf der linken Seite stehenden Gestalten um Jisung und Chan handelte. Es war etwas an ihrer Haltung, dass mich nicht daran Zweifeln ließ. Die Person, die ich zuvor noch nicht hatte identifizieren können, drehte sich kurz um, während ich das Schultor hinter mir ließ.
"Ist sie das?", hörte ich ihren Manager unter der schwarzen Mundschutzmaske fragen. Jisung und Chan wandten sich im selben Moment von der Straße ab, um ebenfallls in die meine Richtung zu schauen. Ich betrachtete sie gebannt.
In Mütze, Mundschutzmaske und die Kapuze ihrer Pullies gehüllt, blickten sie mir entgegen.
Hatte ich wirklich erwartet, sie anders anzutreffen? Sie kamen mir auf den ersten Blick wie Fremde vor.
Die einzige Regung in ihren Gesichtern, die nicht von meiner Sicht abgeschnitten war, waren die Bewegung ihrer Augen - als sie von oben nach unten an mir herab blickten. Meine Befürchtung hatten sich bestätigt. Auch ihr Manager schien es zu sehen. Chans Augen lösten sich als erstes von meiner Kleidung und fanden die meinen, woraufhin ich kurz zusammenzuckte. Der besorgte, aber auch beunruhigte Ausdruck auf seinem Gesicht, während er sich die Mundschutzmaske unter das Kinn schob, ließ mich schlucken. Ich wusste genau, was er denken musste, doch alles was ich hervorbringen konnte, war ein heiseres "Hi", welches nicht den Eindruck machte, wirklich meinen Hals verlassen zu haben.
Doch die Bewegung meines Mundes schien auszureichen, um sie alle aus ihrer Starre zu reißen. Chan wandte sich, im selben Moment, wie Jisung es tat, ihrem Manager zu: "Kannst du schonmal das Auto in Gang bringen?" "Ich glaube, wir brauchen ein Gespräch unter sechs Augen."
Trotz seinen Worten war mir klar, dass Chan nicht unbedingt vorhatte, ein großes Gespräch zu führen. Die erste Begegnung mit ihrem Manager hatte ich mir anders vorgestellt und das er mich jetzt auf diese Weise kennenlernte, war mir mehr als unangenehm - das wusste Chan. In der selben Sekunde, in welcher sich der Manager wegdrehte und zum Gehen ansetzte, viel mir das Gewicht von den Schultern.
Ich sah, wie Jisung sich noch einmal ihrem Manager bemerkbar machte, um ihm etwas zuzurufen, woraufhin ich die Gelegenheit ergriff und den Abstand zwischen Chan und mir überbrückte. Ohne eine Vorwarnung umschloss ich seine Taille und versenkte meine Nase in seinem weichen Oberteil. Es roch wie immer nach ihm. Ich atmete seine Duft als Trost ein, auch wenn es nicht half es zu vergessen.
Und dann schloss er seine Arme ebenfalls um mich. Sein Kinn auf meinem Kopf, versperrte mir die Sicht mit seinen langen Armen. Aber eigentlich gab es gerade nichts Besseres als für eine Sekunde mal nichts zu sehen.
"Du bist eiskalt.", kam ein Flüstern von ihm und er legte die Arme noch ein Stück enger um mich. Aufgrund dieser Aussage, unserer Umarmung und seines warmen Körpers wurde mir augenblicklich bewusst, wie unterkühlt ich zuvor gewesen war. Die Tränen zurückzuhalten fiel mir abermals schwer, zumal sich schon länger ein Klos in meinem Hals befand.
Chan löste sich von mir, wahrscheinlich weil ihm aufgefallen war, dass Jisung uns ein wenig verwirrt betrachtete.
Er schien nicht ganz zu verstehen, weshalb ich seinen älteren Mitbewohner so eng umarmt hatte und erst recht nicht, weshalb meine Wangen jetzt feucht glänzten. Was er allerdings sah, war meine durchsichtige Bluse. Im nächsten Moment ergriff er mit der linken Hand den Zipfel seines Sweatshirtärmels und wollte ihn sich schon über den Kopf ziehen, da erhob Chan die Stimme: "Warte, lass mich machen. Ich habe noch eine Jacke und du nicht."
Während er seine Jacke Jisung zuwarf wandte er sich mit einem warmen Lächeln zu mir und sagte leise: "Nur im Tshirt fängt er sich bestimmt wieder eine Erkältung ein und wir wollen schließlich, dass alle von uns gesund bleiben."
Es gelang mir tatsächlich sein Lächeln halb zu erwiedern, bevor er sich den großen Pulli über den Kopf zog und mit verstrubelten Haaren und im weißen Tshirt darunter hervorkam. Wie konnte man nur mit Augenringen und verstrubelten Haaren so gut aussehen? Es musste an seiner Ausstrahlung liegen. Der Art wie seine Augen mir entgegen strahlten und seine Körpergröße und der sportliche Oberkörper jedes Anzeichen von Erschöpfung wieder zunichte machten.
Ich bemerkte erst, dass ich ihn die ganze Zeit angestartt hatte, als meine Augen anfingen zu Tränen, weil ich vergessen hatte zu blinzeln. In der nächsten Sekunde stülpte man mir den Pulli ohne Warnung über den Kopf, sodass ich beinahe erschrocken zurück gestolpert wäre. Mein Kopf erreichte das Loch am Ende des Oberteils und ich erblickte wieder Sonnenlicht. So unvorbereitet ich in den viel zu großen Pullover gesteckt worden war, so unangenehm hingen mir nun die Haare im Gesicht herum. Da meine Arme jedoch noch nicht ihren Weg in die Ärmel gefunden hatten, konnte ich sie mir schlecht aus dem Gesicht wischen.
"Kannst du mir die Haa-", ich schüttelte reflexartig den Kopf, als es mir plötzlich wegen der Haare an der Nase juckte.
Chan lachte auf.
Schnell beförderte ich meine Armen in die zu langen Ärmel des Pullovers und auch wenn meine Hände nicht das Ende erreichten, reichte es zumindest, um mir halbherzig die Sicht zu befreien. Während ich mir jedoch über die Stirn wischte machte sich ein schmerzhaftes Stechen an meiner Stirn bemerkbar - dort wo ich zuvor mit dem harten Fliesenboden kollidiert war - und meine Beine wurden wackelig. Ich löste keuchend die Finger von besagter Stelle, als Chan sich mir mit entsetztem Gesichtsausdruck näherte. Er schien die Wunde ebenfalls gesehen zu haben, zumal sie auf dem Ärmel seines Pullis eine dunklen Fleck hinterlassen hatte.
"Wie ist das passiert?", kam es darufhin von Jisung, gerade als Chan seinen Mund hatte öffnen wollen. "Sollten wir nicht ein Arzt aufsuchen?", ich weitete nach dieser Aussage die Augen, denn diese Idee gefiel mir gar nicht. Erstens wollte ich nicht an den Ort zurück, den ich mit so vielen dunklen Gedanken in Verbindung brachte und zweitens konnte ich nicht zulassen, dass sie von anderen Menschen dort bemerkt wurden und es gleich drauf im Netz landete. Zuletzt würde man meinen Vater anrufen und ihn wollte ich als wenigsten damit hineinziehen, zumal ich ihm auch nicht vorhatte von diesem Vorfall zu erzählen. Wie auch immer ich das tun würde, mit der auffälligen Wunde an meinem Kopf.
Ich schütelte verneinend mit dem Kopf, nachdem Chan seinen Blicke wieder in meine Richtung gewandt hatte. Und er schien zu verstehen, was ich mit dieser Geste zu meinen schien, doch gleich im Anschluss daran nahm er erneut meinen Kopf zur Hand. Um besser sehen zu können, was dort an meiner Stirn hervortrat, strich er mir mit dem Daumen die restlichen Haare aus dem Gesicht und beugte sich weiter vor als ich es gewohnt war. Hätte die Stelle nicht so geschmerzt - meinen Gehirn nicht so zum dröhnen gebracht - und hätte Jisung mich nicht abgelenkt, indem er bei dem Anblick des Bluts erschrocken die Luft einzog, wäre ich vielleicht im Anblick Chans Gesicht versunken. Es befand sich in unmittelbarer Nähe, doch gerade war einfach nicht der richtige Moment dafür. Für diese Gefühle.
"Es sieht bis auf das Blut nicht so schlimm aus. Vielleicht sollten wir zuerst mal zum Auto gehen. Du weißt doch, dass unser Manager einen Sanitäts-Kurs absolviert hat.", bevor er dies von sich gab, hatte er mir noch einmal ganz genau in die Augen geblickt. Und ich glaubte, dass er wirklich hatte sichergehen wollen, wie ich dazu stand, bevor er antworten würde. Anschließend warf er mir einen zuversichtlichen Blick zu und bedeutete uns dann, uns auf den Weg zu machen. Ich folgte ihm dankbar.

Das Wetter schien mich heute allerdings auch nicht unterstützen zu wollen. Graue Wolken waren hinter den Dächern der Hochhäuser und den Kronen der Bäume aufgetaucht, was Regen vorhersagte. Ich wunderte mich beim einsteigen zwar, wo es hingehen würde, doch eigentlich wollte ich nur hier weg und darauf ohne Regenschirm im Taifun nach Hause zu laufen - so wie es mir schon viel zu oft passiert war -, konnte ich gut verzichten. Als eine Windböhe meine Haare in die Luft beförderte, strömte mir abermals der Duft Chans Eau de Cologne in die Nase, woraufhin mein Herz beim Einsteigen in das Auto ihres Managers nicht ganz so schnell schlug, wie erwartet. Sein Geruch beruhigte mich etwas im Bezug auf die anstehende Bloßstellung vor ihrem Manager. Auch wenn er ihr Freund war, war er mir immernoch fremd. Und falls ich mich überhaupt dazu überwinden konnte, jemandem den Grund der Platzwunde und meiner anschwellenden Bauchschmerzen zu nennen, würde ich das definitiv nicht vor ihm tun.
Warum musste ich in letzter Zeit nur immer in einem so schlechten Zustand vor den Jungs auftauchen? Sie hatten genug Stress in ihrem Alltag, mit dem sie klarkommen mussten, da wollte ich ihnen nicht auch noch zusätzlich das Leben schwer machen.
Plötzlich wusste ich nicht, ob es sich lohnen würde, auf einen Neuanfang ohne Shiwon zu hoffen. Aber vielleicht würde die Anklage meines Vaters ja doch etwas erreichen können?

"Zeig mal her. Ich tu dir auch nichts.", bedeutet mir der Man auf dem Fahrersitz, nachdem Chan ihn vom Beifahrersitz aus gebeten hatte, sich die Wunde anzuschauen. Er warf einen kurzen Blick auf die Wunde an meiner Stirn, um sich daraufhin ein kleines Erstehilfe-Täschchen aus dem Fach auf der Beifahrerseite zu schnappen und eine Stück Watte und Klebeband hervorzuholen. Zuerst wischte er die Wunde mit einem Desinfektionstuch ab, woraufhin ich etwas zusammen zuckte. Nicht nur schmerzte es in der Wunde, auch mein Bauch rebellierte, als ich mich zu ihm nach vorne gebeugt hatte. Es war jedoch so schnell vorbei, dass ich kaum mitbekam wie Chan kurz das Auto verlassen hatte und anschließend mit einer Wasserflasche wiederkam. Er reichte mir sie vom Beifahrersitz nach hinten, doch ich war mir nicht sicher, ob ich es hätte trinken können, ohne ihnen auf der Stelle in das Auto zu kotzen. Die Übelkeit, welche mich aufeinmal übermannt hatte, ließ mir heiße Speichel in den Mund laufen und ein ekelhaftes Gefühl kroch meine Speiseröhre hinauf. Ich musste schlucken.
Da ich Ihnen schon genug Sorgen bereitet hatte, zog ich mir die Kapuze des Pullovers über den Kopf und legte mich mit geschlossenen Augen auf den Sitz zu meiner Linken. Jisung zuckte kurz zusammen, als mein Kopf seinen Oberschenkel berührte, doch es war genug Platz auf der Rückbank, um mein Gesicht im Polster der Sitze zu verstecken. Ein paar Minuten konnte ich es aushalten, doch langsam merkte ich, dass es nicht half. Mein Atem beschleunigte sich, als das Auto an einer Ampel losfuhr und kurz stieg mir Magensäure in den Mund, sodass ich mich schnell wieder aufsetzte. Meine Stirn berührte das kalte Glas und ich merkte wie die Übelkeit sich vermehrte. Nicht nur mein Magen spielte verrückt, meine Hände hatten angefangen, unberuhigend zu kribbeln und zitterten bereits häftig. Ich befürchtete schon vor Atemnot in Ohmacht zu fallen, da ich nun vor Angst die Luft anhielt, als sich Jisungs Stimme neben mir bemerkbar machte: "Kairi... Was ist-" Doch ich ließ ihn nicht zu ende kommen, da ich fürchtete, es würde jeden Moment passieren. "Kann jemand...", ich rang nach Luft und nun hatten es auch Chan und ihr Manager bemerkt. "... das Fenster...", ich versuchte mit meinen zitternden Fingern den passenden Knopf zu finden, doch so panisch wie ich war, hatte es nicht klappen wollen, "...öffnen...".
Ich sah bereits schwarze Punkte in meinem Blickfeld herumschwirren, als plöztlich alle Fenster geöffnet wurden und das Auto eine Vollbremsung zum Straßenrand hin machte. Und als man die Tür öffnete und ich aussteigen wollte, ergriff man mich unter den Achseln, denn auf einmal verließ mich das Gefühl in den Beinen und der Horizont kippte gefährlich schnell zur Seite.

Hidden Face [Stray Kids FF]Where stories live. Discover now