KAPITEL VIER ㅡ brother

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Die drückende Schwüle, die wie üblich auf den unterirdischen Gängen des U-Bahn-Systems lastete, hatte sich auch auf die Straßenebene ausgeweitet und Jeongguk wünschte sich unmittelbar, ein sommerlicher Regenschauer würde über die schwer atmende St...

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Die drückende Schwüle, die wie üblich auf den unterirdischen Gängen des U-Bahn-Systems lastete, hatte sich auch auf die Straßenebene ausgeweitet und Jeongguk wünschte sich unmittelbar, ein sommerlicher Regenschauer würde über die schwer atmende Stadt einher brechen und etwas dieser lähmenden Trägheit hinfort waschen.

Die Lower East Side, gerade an der ersten Auswucherung von China Town, erweckte wieder einmal den Anschein einer Parallelwelt, als er aus der U-Bahnstation an die Oberfläche trat. Die Häuser standen so nahe beisammen wie oben in Hell's Kitchen, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Vergleich zwischen seiner Wohngegend und dem nördlichen Stadtteil zu ziehen.

Die Lower East Side erschien wie der hässliche Zwilling Clintons. Der Müll einer gesamten Woche stapelte sich in uniformen schwarzen Säcken auf der Kante zwischen Gehweg und Straße und ein schmieriger Belag hatte sich auf alles gelegt, das von der Stadtverwaltung nicht mindestens einmal im Jahr einer Mitleidsreinigung unterzogen wurde. Die Fassade des Hauses, in dem er eine Ein-Zimmer-Wohnung im zweitobersten Stock bezog, bestand aus weißen Kacheln, die in einem anderen Stadtteil wie Chelsea reinweiß und gepflegt geschimmert hätten, aber hier abgeschlagen und speckig zwischen verrosteten Feuerleitern hervorsahen.

Das schmale Stadthaus war von beiden Seiten von chinesischen Lebensmittelläden flankiert, aber im Vergleich zu Taehyung hatte er weder Mandarin noch Kantonesisch jemals gelernt, weshalb er sich mit Madame Wang, der Besitzerin des Bo Hai Stores allzeit in allersimpelsten Englisch unterhielt, falls er spätnachts von Taehyung oder Hell's Kitchen zurückkehrte und den gesamten Tag über noch nichts gegessen hatte.

Ihre Baozi waren die tägliche Nahrungskarenz jedoch wahrlich wert.

Sie winkte ihm durch die Scheibe hindurch zu, als sie ihn vorüberschlendern sah, und er erwiderte ihren Gruß grinsend. Heute würde er das Angebot ihrer Dumplings wohl abschlagen müssen; denn obwohl er den gesamten Tag hinter einem flüchtigen italienischen Runner hergewesen war; die Stelle, an der er seinen leblosen Körper schließlich zwischen zwei Müllsäcken in einer Nebengasse abgeladen hatte, lag unmittelbar neben einem Meatball-Shop, an dem er einfach nicht vorbeigehen konnte.

Jeongguk eilte die Treppen zu der Haustür hinauf und fand sie wie immer angelehnt vor. Es schwallte ihm sofort die abgestandene Sommerluft eines gesamten Tages entgegen, und der Unwillen, das stickige Haus zu betreten, formte sich in ihm. Er hätte vermutlich noch eine weitere Runde um den Block gedreht, wenn José Gonzales, der Bewohner der zweiten Wohnung auf seinem Stockwerk, nicht gerade mit beschwingten Schritt die Treppe hinabgekommen wäre. Bei Jeongguks Anblick flackerte der Anflug einer Wiedererkenntnis in ihm auf, als habe er sich gerade an etwas erinnert.

Jeongguk und er sprachen nur wenig miteinander; José wusste nicht einmal, dass Jeongguk seiner Muttersprache fähig war und so nickte er ihm zu, als sie sich auf dem Treppenabsatz passierten. „Jemand wartet vor deiner Wohnung auf dich. Sitzt schon seit zwei Stunden da."

SLOWTOWNWhere stories live. Discover now