|21| - Das graue Buch

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2004, Palles PoV:

"Aua...", zischte Julia hinter mir. "So eine Scheiße."

"Was ist?" Unglaublich schnell war ich herumgedreht und sah wie sie mit spitzen Fingern versuchte eine Dornenranke aus ihrem Unterschenkel zu ziehen, die sich dort festgebissen hatte. "Hätte ich gewusst, dass wir eine Stunde durch den Dschungel wandern, wäre ich vielleicht doch am Strand geblieben." "Jetzt sei nicht so...", sagte ich mit gerümpfter Nase. "Dies ist weder ein Dschungel noch sind wir schon eine Stunde unterwegs." "Sorry...", murmelte sie und wischte über die blutigen Kratzer, die die Dornen hinterlassen hatten. "Es brennt nur ziemlich."

"Das glaub ich dir doch." Vorsichtig stapfte ich über die Dornen zu ihr, um mir die Kratzer anzusehen. "Das ist glaub ich nicht tief. Warte, ich hab ein Taschentuch dabei." Überraschenderweise verfärbte sich das Taschentuch schnell in ein Dunkelrot. Julia seufzte. "Warum passiert mir so etwas immer?" "Es ist bestimmt nicht mehr weit bis zu den Hotels. Die werden bestimmt Pflaster oder so haben.", lächelte ich ihr zu und nahm ihre Hand. Bis wir aus den Kiefern herausbrachen, hielt ich diese fest.

Das Gelände hinter dem Kiefernwäldchen unterschied sich deutlich von unserem Ferienlager und dessen Umgebung. Gewöhnt waren wir schmale Landstraßen mit vielen Schlaglöchern, die sich braun durch gelb gebrannte Felder und Wiesen schlängelten. Auf der einen Seite der Straße hatten wir große, gemütliche Einzelhäuser in warmen Farben mit prächtigen Vorgärten, wo Blumen in allen Farben schimmerten. Und zwischen den hohen gelben Gräsern prankten irgendwo am Horizont einige Kiefern. Doch als wir nun da standen, am Rand des Wäldchens, stach es uns in den Augen. Und nicht nur, weil wir wegen dem Schatten der Bäume nur an schummeriges Licht gewohnt waren. Vor uns erstreckte sich eine Ebene an Hotels, die hoch und schlank in den Himmel ragten und gefühlt nur aus Fenstern bestanden. Das Sonnenlicht wurde von den Glasscheiben und der glänzenden Oberfläche der vielen Gebäude widergespiegelt und es erstrahlte die gesamte Szene in einem unwirklich grellen Licht. "Krass...", war das einzige Wort, das Julias Lippen entwich, während sie mit zusammengekniffenen Augen die Hotels begutachtete. Auch nur das kleinste Zimmer in diesen Hotels würde vermutlich unfassbar teuer sein. Eines hatte an beiden Seiten der großen Glasdrehtür, die in das Innere des Hauses führte, zwei Wasserfälle, welche in kleine Seen flossen. Vor den meisten lag vor dem Hotel noch eine kleine, feinsäuberlich geschnittene saftgrüne Wiese, nicht so gelb verbrannt bei uns. Möglicherweise war es Kunstrasen. Von Blumen und Kiefern war so gut wie nichts zu sehen, bloß ein paar Palmen beugten sich von beiden Seiten tief über die breite graue Straße, auf der wenige Touristen unterwegs waren. Frauen mit langen weißen Kleidern und rotem Lippenstift schwebten wie Feen über den glühenden Stein der Gehwege.

Mich wunderte die ganze Szenerie sehr. Wieso reist man in ein fremdes Land, wenn man dann in so einer Hotelanlage ist und bis auf Luxus und Strand nichts vom eigentlichen Leben dieses Landes mitbekommt? Keine Menschen und Kultur kennenlernt? Ist das nicht eigentlich das Ziel vom Urlaub machen? So langsam konnte ich Manu verstehen, weshalb er sich lieber bei uns auffhielt. Weshalb er sich abends lieber an den leeren Strand setzte. Mein Herz wurde unglaublich schwer und ich merkte gar nicht, dass Julia meine Hand losließ und zielstrebig auf das nächste Hotel zusteuerte. "Was machst du denn da? Das kannst du doch nicht bringen...", seufzte ich und tat mein Bestes das Mädchen auf ihren langen Beinen einzuholen. Trotz der blutverschmierten Kratzer an ihrem Unterschenkel war sie noch unglaublich flott unterwegs. "Ich hole mir mein Pflaster wie du gesagt hast.", meinte sie. "Da wusste ich aber auch noch nicht, was das für Hütten sind...", versuchte ich sie aufzuhalten, doch das ließ Julia nicht zu. "Wenn du dich nicht traust, bleib doch hier draußen.", Julia drehte mir ihren Kopf zu und streckte mir ihre Zunge neckisch heraus, bevor sie in das Hotel trat. Und ich blieb draußen stehen. Meine Füße trugen mir einfach nicht mehr weiter. Das lag nicht an daran, dass ich Angst hatte, reichen Leuten gegenüberzutreten. Nein, ich hatte im grünen Kunstrasen neben mir etwas entdeckt.

-DAMALS.- | #kürbistumor #glpalleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt