|23| - Eine wahllose Seite

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2004, Palles PoV:

Der nächste Tag kam und ging so schnell, dass ich nicht einmal richtig mitbekam, was geschah. Wir hatten eine Fahrt in die Stadt gemacht, wo wir uns alte Kathedralen angeschaut hatten. Es war schon ziemlich schön gewesen. Meine Gedanken hingen dennoch mehr an dem grauen Buch, das unter meinem Kopfkissen in unserem Zelt lag, als an den grauen Statuen, die vor der einen Kirche aufgebaut waren. Ich hatte es nicht gewagt, es durchzublättern. Irgendwie kam es mir falsch vor, würde ich in der Privatsphäre eines eigentlich fremden Menschen herumschnüffeln. Auch, wenn es mich schon ziemlich interessierte, was für ein Mensch Manu war. Jedoch gab es dafür doch bestimmt auch andere Wege als in seinem Tagebuch zu lesen, oder? Wenn ich genauer darüber nachdachte, war ich Dado und Fabi ziemlich dankbar. Die Beiden waren gestern Abend früh zu Bett gegangen, als ich gerade mit mir gekämpft hatte, ob ich in dem Buch lesen sollte oder nicht. Sie hatten es nicht gemerkt, dass ich etwas hastig unter mein Kopfkissen gestopft hatte. Aber sie hatten mich somit am Lesen gehindert.

Jetzt saß ich wieder im Schneidersitz auf meiner Isomatte in der gleichen Situation wie gestern Abend. Das graue Buch lag in meinem Schoß, ich wagte nicht, es zu berühren. Die Anderen waren alle draußen, sie hatten ein Lagerfeuer vorbereitet und rösteten Stockbrot. Durch die dünne Zeltplane drang ihr aufgeregtes Lachen an mein Ohr, alle plapperten durcheinander und schienen ziemlich viel Spaß zu haben. Sogar das Flackern des Feuers konnte ich auf der Zeltwand erkennen. Ich könnte mich zu ihnen gesellen, aber gerade hatte ich nicht so sehr Lust, mir Asche ins Gesicht pusten zu lassen und an verbranntem Stockbrot herumzuknabbern.

Das graue Buch war um einiges interessanter. Allgemein waren Tagebücher interessant. Menschen, die Tagebuch schrieben, waren interessant. Ich selbst hatte mal mit zwölf mich daran versucht, war jedoch nach weniger als zwei Wochen kläglich gescheitert. Gerade in diesem Moment verurteilte ich mich dafür, dass ich nicht weitergeschrieben hatte. In so einem Buch stand die ganze Jugend eines Menschen, die prägensten Erlebnisse des jungen Lebens. Eigentlich gab es schon Momente, in denen ich, schöne Erlebnisse von früher zurückholen wollte. Ich würde mich gern an mehr erinnern.

Ich ließ mich auf meine Kissen fallen, die Schatten tanzten an der Zeltwand, als wären sie geheimnisvolle Wesen. Ihre schlanken, verschlungenen Körper wanden sich und ich fühlte mich wie in einem Traum. Die Wesen bewegten sich mal schnell, mal langsam, die roten Flammen glühten hinter ihnen wie ein feuriger Schlund. Und ich war ein Teil des Spiels. Die Schatten hüpften um mich herum, sie wollten mich einladen. Tausende Stimmen flüsterten durcheinander, lange dunkle Finger griffen nach mir, doch erreichten mich nicht.

Der Einband des Buches fühlte sich rau unter meiner Haut an, als ich es aufklappte. Die Seiten waren dünn und flatterten wie die Schatten um mich herum. Ich wollte das nicht. Manu würde einen Grund gehabt haben, mir diese Geschichten vorzuenthalten. Es war ehrenlos, in Tagebüchern zu lesen, die einen selbst nicht betrafen. Doch in mir brannte die Neugier und ich konnte nicht anders. Langsam blätterte ich die Seiten durch, bis ich mir wahllos eine Seite mittig des Buches aussuchte und begann zu lesen.

Liebes Tagebuch,

heute sind wir endlich im Urlaub angekommen. Aber ich weiß nicht wie ich das Ganze hier finden soll. Es ist irgendwie so groß und so hell. Das habe ich mir anders vorgestellt. Lieber wäre ich zuhause bei Mama geblieben, aber Papa wollte mich ja unbedingt mitschleppen. Vielleicht wird es ja aber dann doch ganz schön. Basti zumindest sagt die ganze Zeit, das Essen soll gut sein. Und Angie schwärmt vom Sonnenbaden am Pool. Irgendwie interessiert aber keinen, was ich möchte. Ich möchte auch gerne was vom Strand sehen. Von den Menschen, der Umgebung. Wenn Papa wieder auf einer seiner Konverenzen ist, werde ich mich wahrscheinlich davonschleichen und die Umgebung erkunden. Ich muss aber rechtzeitig zurückkommen, ich will nicht wissen, was Papa macht, wenn er merkt, dass ich nicht bei Angie war. Im Moment ist er irgendwie reizbar. Mama aber auch. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis sie sich trennen. Ich hoffe es zumindest, dann hat der ganze Albtraum ein Ende... Vielleicht werde ich ja so-

"Patrick?" Julia hatte ihren Kopf ins Zelt gestreckt und musterte mich. Manus Erzählung hatte mich so gefesselt, dass sie gar nicht hatte kommen hören. Ganz langsam kroch die Erkenntnis in mir hoch, was ich da gerade getan hatte und mit der Erkenntnis kam der Scham. Schnell schlug ich das Buch zu.

"Was liest du da?", fragte Julia, die Augen zu Schlitzen verengt.

"Nichts.", brachte ich heraus und schob Manus Tagebuch wieder unter mein Kopfkissen. "Das ist privat." Julia begann zu grinsen. "Ist das etwa dein Tagebuch? Wusste gar nicht, dass du eins hast. Keine Sorge: Ich erzähle niemandem davon. Tagebücher gehen niemanden außer einen selbst was an." Mein Magen begann zu schmerzen. Sie hatte so recht. Fremde Tagebücher gingen mich nichts an. Manus Tagebuch ging mich nichts an. Ich fühlte mich schrecklich.

"Kommst du mit raus?", frage Julia und ihr Grinsen wurde noch breiter.

"Manu ist auch da."

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Hättet ihr an Palles Stelle auch in Manus Tagebuch gelesen?

Was haltet ihr von Leuten, die so etwas tun?

Das interessiert mich gerade voll.

Ich wünsche denen, die jetzt Ferien haben, eine ganz schöne und erholsame Ferienzeit. Und allen anderen: Haltet durch! Bald ist Ostern!

-Zucchini out

-DAMALS.- | #kürbistumor #glpalleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt