Anas Drittes Gebot

1.3K 60 22
                                    

Am nächsten Morgen wurde Sahra durch ihren Wecker geweckt. Genervt schaltete sie ihn aus und rollte sich aus dem Bett. Neue Kleidung nehmen und ins Bad gehen. Sich umziehen und auf die Toilette gehen. Dann in die Küche und frühstücken. Ohne Nutella. Nur einen einfachen Toast mit Butter und Apfelsaft. Verdünnter Apfelsaft. Und damit sie nicht doch noch zu einem Nutella Toast griff, steckte sie sich nach dem Essen einen Kaugummi in den Mund. Den würde sie einfach so lange kauen, bis kein Geschmack mehr drin war. Und zur Sicherheit steckte sie sich noch zwei separate Kaugummistreifen in die Hosentasche.
Auf dem Weg zur Schule ließ Sahra die beiden Träume Revue passieren. Sie erinnerte sich an die beiden Gebote und an ihren fetten Körper, den sie im Spiegel sah. Widerlich! Absolut widerlich. Aber Ana hatte recht, soweit würde sie es nie kommen lassen. Soweit durfte sie es nicht kommen lassen. Sie würden zusammen halten und dadurch würde sie dünn werden.

Der Schultag verlief ereignislos. Maria hatte die Hausaufgaben in Mathe vergessen, aber das war bei ihr nichts Neues. Nach der Schule fuhren die drei Mädchen in die Stadt. Sie wollten ein wenig durch die Läden des Einkaufscenters bummeln. Laila wollte unbedingt zu Thalia, weil sie sich ein paar neue Bände von Assassination Classroom kaufen wollte und Sahra und Maria latschten hinter ihr her.
Nach einer guten Stunde überkam Laila eine Idee: „Lasst uns zum Italiener gehen, ich habe echt Hunger." Maria stimmte zu, auch ihr knurrte der Magen. Sahra jedoch zögerte. Sie wollte jetzt nichts essen, sonst würde Ana vielleicht wieder böse werden. Sie brauchte eine Ausrede. „Also ich habe äh, keinen Hunger. Ich äh, habe einen Kaugummi im Mund und ähm, durch den Pfefferminzgeschmack habe ich gerade keinen Appetit etwas zu essen. Das schmeckt sonst doof, versteht ihr?"
Maria nickte und auch Laila hinterfragte diese Aussage nicht weiter. Aber sie gingen dann doch etwas essen. Sahra setzte sich einfach daneben und schaute den anderen beiden zu. Als sich der Nachmittag allmählich in den Abend umwandelte trennten sich die Mädchen und jede von ihnen machte sich auf den Weg nach Hause.

Zu Hause wurde sie bereits mit einem gedeckten Tisch empfangen. Ihre Mutter hatte schon angefangen mit essen und Sahra setzte sich dazu. Nach zwei überbackenen Toasts verschwand sie wieder in ihrem Zimmer. Da keine Hausaufgaben anstanden und sie auch nicht für irgendwelche Tests lernen musste schaute sie die restliche Zeit über YouTube Videos bevor sie ins Bett ging. Heute ging sie eine halbe Stunde früher als sonst schlafen da sie Ana schneller wieder sehen wollte. Noch einmal kurz auf die Waage stellen; 53,4 kg. Es ging sehr schleppend voran. Aber immerhin nicht zugenommen. Gewichtszunahme ist schlecht! Dann legte sie sich in ihr Bett und versuchte einzuschlafen.

Der weiße Raum ist mir mittlerweile nur allzu gut bekannt. Ich fühle mich hier warm und geborgen. Und ich freue mich Ana wieder zu sehen. Ich möchte ihr mit stolz erzählen, dass ich, als ich mit Laila und Maria in der Stadt war, nichts gegessen habe. Ich drehe mich freudig um, doch da steht sie nicht. Nur endloses Weiß. Ich bin verwirrt. Warum ist sie nicht hier?
„BUH!", ruft eine Stimme ganz dicht hinter meinem Ohr und zwei Hände packen mich an den Armen. Ich zucke heftig zusammen und drehe mich um. Da steht sie, nur Zentimeter von mir entfernt und grinst mich breit an. Sie bricht in schallendes Gelächter aus und nach der ersten Schrecksekunde stimme ich mit ein. Wir lachen und lachen bis uns Tränen kommen.
Ana kriegt sich zuerst wieder ein und fragt nach Luft schnappend: „Und, wie war dein Tag?" Ich räuspere mich und schlucke den nächsten Lacher hinunter bevor ich antworte: „Ganz gut würde ich sagen. Ich habe heute, als ich in der Stadt war, nichts gegessen." Ich lächle stolz aber Ana guckt ernst. „Und Trotzdem hast du kaum abgenommen." Das Lächeln schwindet aus meinem Gesicht und mein Stolz verkriecht sich in irgendeine hintere Ecke. „Ich weiß", murmele ich. „Hast du eine Idee wie ich das beschleunigen kann? Was muss ich tun, um besser abzunehmen?" Meine Stimme hat einen flehenden Ton angenommen. Ana legt mir eine Hand auf die Schulter und schaut mir in die Augen. „Drittes Ana Gebot, willst du es hören?", fragt sie mich. „Ja bitte", sage ich, weiter flehend. Ana holt Luft: „Drittes Ana Gebot: „Ich muss alles dafür tun dünner zu sein"." Ich schaue sie fragend an. „Was meinst du damit?"
„Damit meine ich, dass du mehr tun musst, als nur ein bisschen weniger zu essen. Du musst aktiver werden. Du musst aufgenommenen Kalorien wieder los werden und dafür gibt es zwei Wege. Weg Nummer eins: du gehst nach dem Essen ins Bad und kotzt es wieder aus-"
„WAS?!",rufe ich entsetzt dazwischen. Kotzen? KOTZEN?! Ana will, dass ich KOTZE?! Das kann doch bitte nicht ihr Ernst sein! Ich hasse Erbrechen. Es ist so widerlich und irgendwie habe ich sogar ein wenig Angst davor. Ach Quatsch „ein wenig", ich habe GROßE Angst davor! Was ist, wenn ich daran ersticke? Oder mir meine Speiseröhre und den Mund und Rachenraum durch die Magensäure verätze? Ich will in meinem Leben niemals wieder brechen müssen.
Doch Ana beruhigt mich: „Ganz ruhig, ganz ruhig. Es ist kein Muss. Es ist nur eine der beiden Möglichkeiten. Wenn du nicht kotzen willst, dann gibt es für dich noch Nummer zwei zur Auswahl."
„Und was ist Nummer zwei?", frage ich vorsichtig. Sie schaut mich weiter beschwichtigend an. „Nummer zwei wäre: Sport! Du musst Sport machen, aktiver werden, dich mehr bewegen, alles mögliche halt, wo du Kalorien verbrennst."
Ich überlege kurz. „Also wenn ich Sport mache, werde ich besser abnehmen und muss nicht kotzen?" Sie lächelt und bestätigt meine Schlussfolgerung. Doch dann setzt sie noch hinzu: „Natürlich wirst du nicht von jetzt auf gleich abnehmen können, ja? Es wird ein langer, harter, steiniger Weg, den du beschreiten musst. Aber das kriegen wir hin, alles klar? Gemeinsam schaffen wir das! Du darfst nur nicht aufgeben. Bleib stark. Stay Strong." Jetzt lächle ich sie an. „Ich bleibe stark, ich will dünn werden. Ich werde Sport machen und abnehmen, ich verspreche es."
Ana löst sich auf.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now