VERGESSENE Hausaufgaben

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„Was soll das heißen, du hast das Material nicht?!", fragte Laila wütend und starrte Sahra böse an. Sie senkte beschämt den Kopf und verschlang die Finger ineinander. Freitag, Gruppenarbeit, Bio, menschliches Blut. Und sie hatte vergessen zu ihrem Thema etwas rauszusuchen.
„Ich... ich hab nicht dran gedacht", sagte sie kleinlaut. „Es ist mir erst heute Morgen auf dem Weg zur Schule wieder eingefallen."
Ja, es war ihr erst zu spät wieder eingefallen. Normalerweise vergaß sie so etwas nie (na gut, das eine Mal vor drei Monaten bei den Wirtschaftshausaufgaben, aber sonst nie!) und war verantwortungsvoll, doch in den letzten Tagen war sie zu beschäftigt gewesen. Ana war fast ununterbrochen da gewesen und hatte sie zu Aktivitäten gedrängt. Raus gehen und spazieren, Sport machen, in ihrem Zimmer tanzen und was ihr noch so einfiel um Sahra auf Trapp zu halten. Und durch ihr Abgelenkt sein hatte sie Schule total verdrängt.
Maria ergriff das Wort: „Ach jetzt komm schon, sei nicht so gemein, jeder kann mal etwas vergessen. Ich hab doch auch kaum etwas zu meinem Thema ausgearbeitet. Vielleicht Fünf Sätze oder so." Laila funkelte Maria an.
„Ich bin nicht gemein, ich bin nur aufgeregt. Hallo?! Heute ist Abgabe Tag! Heute muss es fertig werden! Wir haben keine Zeit mehr! Und du hast wenigstens etwas ausgearbeitet, zwar nicht viel, aber etwas! Außerdem war ich schon darauf vorbereitet, dass du nichts mitbringst und habe dein Thema zusätzlich zu meinem noch gemacht, aber darauf, dass Sahra etwas zu ihrem Thema ausarbeitet, habe ich fest vertraut! Sie macht es doch sonst auch immer und auf sie ist Verlass, deswegen bin ich schockiert. Außerdem,", sie wandte sich Sahra zu, „warum hast du es vergessen? Hattest du etwas besseres zu tun?"
Sie zögerte kurz. Was sollte sie darauf jetzt antworten? Sie konnte ja schlecht sagen: „Tut mir leid, aber meine unsichtbare Freundin hat mich die ganze Zeit über hin und her gehetzt, da habe ich Schulzeug einfach aus den Augen verloren." Das ging ja nicht. Sie brauchte eine Ausrede.
„Ich äh, ich weiß es doch auch nicht Laila. Ich weiß nicht, warum ich es vergessen habe, es ist einfach passiert und ich kann es jetzt auch nicht ändern." Laila fuhr sich verzweifelt durch die Haare.
„Aber wir müssen es heute fertig kriegen! Es darf nichts fehlen!" Maria legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: „Ich habe eine Idee." Sie winkte Sahra zu sich heran und die Drei steckten die Köpfe zusammen.
„Wir machen es so", flüsterte sie, darauf bedacht, dass ihr Lehrer nichts mitbekam, „Sahra geht jetzt auf die Toilette mit ihrem Handy. Da bleibt sie ein paar Minuten und googelt nach ein paar Informationen. Wenn sie wiederkommt gehe ich aufs Klo und danach du Laila. Wir suchen alle Informationen heraus, die wir finden können, dann haben wir zumindest etwas, was wir auf das Plakat schreiben können." Lailas Miene hellte sich ein wenig auf.
„Das ist ne Idee", sagte Sahra und war verblüfft über Marias Einfallsreichtum. Doch Laila machte einen überlegenden Gesichtsausdruck. „Aber ein paar Minuten werden dafür nicht ausreichen. Ich hab für mein Thema eine ganze Stunde gebraucht, ehe ich genügend zusammen hatte." Maria wurde still und dachte nach. Auch Sahra überlegte, wie sie mehr Zeit auf dem Klo gewinnen könnte. Sie könnten alle einfach Zwei Mal aufs Klo gehen. Aber das könnte zu auffällig werden. Und einfach Zehn Minuten auf dem Klo bleiben wäre auch zu verdächtig. Dann schnippste Maria und zog die beiden an den Schultern wieder zu sich heran.
„Ich habs", flüsterte sie, „während einer von euch auf Toilette ist, wird der Andere das Plakat machen und ich suche in der Zeit weiter nach Informationen."
„Wie willst du–"
„Ich nehme mein Handy, verstecke mich hinter euch, so dass Herr Baumat mich nicht sieht, und google einfach." Sahra überlegte. „Aber was, wenn dein Handy eingezogen wird?", flüsterte sie zurück. Maria zuckte mit den Achseln. „Dann ist es halt so, ich krieg's nach dem Unterricht ja eh wieder. Aber so bekommen wir das Plakat fertig." Sahra schaute Laila an, kurz zu Maria und dann wieder zurück. Laila nickte.
„Okay, dann machen wir das so. Danke Miri", sagte sie leise und sie lösten sich voneinander.
„Also, ich geh zuerst", murmelte Sahra, riss aus ihrem linierten Block eine Seite heraus, faltete sie zusammen und steckte sie mit einem Bleistift in ihre Hosentasche. Dann meldete sie sich.
„Gut, ich fang schon mal mit dem Plakat an und Maria googelt."
Herr Baumat kam zu ihnen herüber. „Was ist?", fragte er.
„Äh, kann ich mal auf die Toilette?" Sahra versuchte möglichst beiläufig zu klingen.
„Okay, aber mach schnell. Du weißt, ihr müsst heute fertig werden." Er ging weiter und sie stand auf. Doch Maria hielt sie am Arm zurück.
„Äh, wie war dein Thema noch mal?", fragte sie und grinste.
„Inhaltsstoffe und was bei einem Blutbild rauskommt", sagte sie schnell und Maria nickte und ließ sie los. Sahra ging durch den Biologieraum, vorbei an den anderen Gruppen durch die Tür nach draußen. Schnellen Schrittes machte sie sich auf den Weg zu den Mädchenklos. Sie betrat den Raum. Niemand war hier, alle Türschlösser waren Weiß. Sie verschwand in einer der Kabinen, schloss ab und setzte sich auf den zugeklappten Klodeckel. Schnell zog sie ihr Handy hervor und suchte nach Informationen. Mit schludriger Schrift kritzelte sie alles auf den zusammengefalteten Zettel.
Plötzlich hörte sie Schritte und hielt inne. Im Klo war jemand. Doch wie war sie hereingekommen, ohne dass Sahra die Tür gehört hatte?
„Ich brauche keine Türen", sagte eine ihr sehr vertraute Stimme. Fassungslos öffnete sie die Kabinentür und sah Ana angelehnt an einer Wand stehen. Sie grinste.
„Was machst du–", doch Ana unterbrach sie. „Mund zu. Gedanken Sahra, Gedanken." Sie verstummte.
„Was machst du hier?", fragte sie also in ihren Kopf hinein. Ana stieß sich von der Wand ab und schlenderte zu ihr herüber. „Ach, ich wollte nur mal gucken wie es dir so geht. Mal kurz vorbeischauen und sehen was du so machst."
„Was ich so mach–", doch sie stockte. Ihre Augen weiteten sich und sie starrte auf ihren Zettel. Scheiße, sie sollte doch Infos raussuchen, stattdessen quatschte sie mit Ana. Sie sah auf die Uhr. Doppelt Scheiße, sie musste zurück in den Unterricht, sonst würde ihr Fehlen auffallen.
„Du, ich kann jetzt nicht, ich bin gerade sehr gestresst", sagte sie und verließ hektisch die Toilette. Ana ging neben ihr her und sah sich aufmerksam um. „Schön hier", sagte sie.
„„Schön", „schön", das ist Schule, hieran ist überhaupt nichts schön", dachte Sahra und bog um eine Ecke. Ana lachte. „Auch wieder wahr." Dann hielt sie Sahra am Arm fest und verlangsamte sie dadurch.
„Eine Sache will ich dir aber noch sagen", sagte sie und wurde ernst.
„Was denn?", fragte sie gedanklich und sah Ana gespannt an. Was konnte es nur sein? Ein Tipp vielleicht, wie sie Kalorien verbrennen könnte? Ein Gebot? Ein Trick?
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, kein Gebot, kein Tipp und kein Trick. Eher ein Rat. Ich finde, dass Laila keine gute Freundin für dich ist." Sahra runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn darauf?"
„Naja, so wie sie dich vorhin angemeckert hat, nur weil du etwas vergessen hast, das machen Freunde nicht. Sie ist keine gute Freundin. Ich wette, die beiden Lästern jetzt gerade über dich und machen sich über dich lustig. Wie dumm, naiv und fett du bist. Und sie amüsieren sich köstlich darüber, dass du glaubst, sie würden dich wirklich mögen, würden wirklich mit dir befreundet sein." Ana sah sie fest an. Doch Sahra war verwirrt. Wie kam sie bitte da rauf? Laila und Maria waren ihre besten Freundinnen, sie würden niemals übereinander lästern. Sie hielten zusammen und unterstützten sich. Und außerdem konnte sie Laila ja nachvollziehen, sie wäre auch sauer auf sich gewesen, wenn sie vergessen hätte Material für eine Gruppenarbeit herauszusuchen. Verdammt, sie war ja auch sauer auf sich. Aber Laila und Maria würden sie nie hintergehen.
Oder doch?
Sie blickte zu Ana doch der Platz an dem sie gerade noch stand war leer. Sie blickte sich um. Nein, sie war weg. Schnell ging sie zurück zum Bioraum. Als sie rein kam sah sie ihre beiden Freundinnen mit zusammengesteckten Köpfen tuscheln.
Lästerten sie vielleicht doch?
Nein, sie redeten bestimmt über die Gruppenarbeit. Sie ging zu den beiden herüber und setzte sich. Laila beugte sich wieder über das Plakat und Maria wandte sich ihr zu.
„Und, hast du was?" Sie zeigte ihr die wenigen Stichpunkte, die sie geschafft hatte aufzuschreiben.
„Okay, dann geh ich jetzt", sagte Laila und übergab den Stift mit dem sie gerade schrieb an Sahra, „du machst hier weiter." Sahra reichte ihr im Gegenzug ihren Bleistift und den zusammengefalteten Zettel, damit sie darauf weiter schreiben konnte. Sie meldete sich, Herr Baumat kam und sie ging auf die Toilette.
Sahra überflog kurz, was schon auf dem Plakat stand. Die Definition, Blutgruppen, Zusammensetzung, Eigenschaften, Funktion. Gut.
„Also, ich hab noch was", sagte Maria und blickte sich kurz um, ob ihr Lehrer auch abgelenkt war.
„Okay, schieß los."
„Das Blutbild, in Klammern Hämogramm, ist in der Medizin standardisierte Zusammenstellung wichtiger Befunde aus der Blutprobe. Es gibt einen Überblick über die im Blut enthaltenen Bestandteile. Es enthält Daten sowohl zur Qualität zellulärer Bestandteile und zu deren Morphologie, in Klammern äußerer Form." Sahra schaute sie an. „Sag mal, zitierst du da gerade einfach Wikipedia?" Sie grinste.
„Jupp." Sahra verdrehte die Augen und begann die Informationen in abgewandelter Form aufzuschreiben.

Laila kam wieder, drückte Maria Stift und Zettel in die Hand und diese verließ den Raum. Sie setzte sich zu Sahra und flüsterte ihr zu: „Hey, sorry, dass ich vorhin so zickig geworden war. Jeder kann mal etwas vergessen, aber ich bin halt davon ausgegangen, dass du was mitbringst, da du es ja sonst auch nie vergisst. Aber wir haben ja jetzt eine gute Lösung gefunden und somit ist alles gut. Es ist nur so, dass ich unbedingt eine gute Note in Bio brauche, sonst hab ich auf dem Halbjahreszeugnis eine Drei und ich brauche aber eine Zwei um meinem Schnitt nicht zu versauen." Sahra lächelte sie an und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter.
„Alles gut, wirklich. Ich kann verstehen, weshalb du sauer warst. Ich war ja auch sauer auf mich, dass ich so vergesslich war."
„Ha! Siehst du Ana? Sie ist doch eine gute Freundin! Und sie hatte auch ein gutes Recht auf mich sauer zu sein", dachte sie triumphierend. „Wenn du meinst", sagte Anas Stimme und sie konnte fast sehen wie sie mit den Schultern zuckte.
Laila lächelte erleichtert und die beiden widmeten sich wieder ihrer Aufgabe.
Als Maria wiederkam überreichte sie den Notizzettel an Laila, die auch prompt begann die Stichpunkte zu übertragen.
Am Ende der Stunde gaben sie ihr Plakat ab, erleichtert darüber, dass sie nun doch zu jedem Thema etwas aufschreiben konnten.
Zusammen gingen sie in die Pause und stellten sich in ihre Ecke auf dem Schulhof. Die beiden fingen an zu essen und Sahra schaute in der Gegend herum. Sie dachte nach. Warum war Ana heute da gewesen? Sie hatte sie zuvor noch nie in der Schule besucht. Sie hatte höchstens in ihrem Kopf mit ihr gesprochen. War sie wirklich nur gekommen um ihr zu sagen, dass Laila eine schlechte Freundin für sie war? Aber das stimmte doch nicht. Laila war sogar eine sehr gute Freundin! Natürlich hatten sie manchmal Meinungsverschiedenheiten, aber das gehörte nun einmal zum Leben dazu. Aber vielleicht wollte Ana ihr auch nur helfen, sie nur warnen. Aber wovor warnen? Es gab doch nichts, wovor sie gewarnt werden musste, oder? Oder? Und lästern? Sie lästern doch nicht hinter ihrem Rücken. Sie machten ständig Witze übereinander, aber das war ja auch alles humorvoll gemeint. Genauso wie, wenn sie sich Beleidigungen an den Kopf warfen. Das war alles nicht ernst gemeint.
„Wisst ihr was", unterbrach Laila ihren Gedankengang, „Ich wäre dafür, dass wir dieses Wochenende etwas unternehmen. Wir zu dritt." Sie sah Maria und Sahra erwartungsvoll an. Maria schluckte ihren Bissen Brot hinunter und sagte: „Klar, warum nicht? Also ich wäre dabei." Sie blickte Sahra an, „Du?"
Sie überlegte kurz. Am Wochenende etwas zusammen machen? Prinzipiell ja, aber dann würde ihr die Zeit zum Sport machen flöten gehen. Andererseits könnte sie sich dann Zuhause vor dem Essen drücken. Aber was, wenn Laila irgendetwas machen wollte, wo man essen musste? Doch könnte sie das ja vielleicht wiederum irgendwie ablehnen.
„Äh, okay, bin dafür", sagte sie schließlich und lächelte. Laila strahlte. „Supi", doch Maria hob den Zeigefinger. „Was schwebt dir denn vor, was wir machen wollen?", fragte sie. Laila blickte die beiden freudig an und antwortete: „Ich dachte, wir könnten vielleicht ins Korallenriff gehen."
Sahra überlegte. Das Korallenriff war ein Hallenbad. Es hatte vor ungefähr Zehn Jahren eröffnet und hatte seinen Namen daher, dass es auf die Wasserbeckenwände riesige Bilder von Korallenriffen und Unterwasseraufnahmen geklebt hatte. So konnte man sich so fühlen, als würde man gerade im Meer schwimmen. Es war ganz schön dort. Sahra war schon öfters da gewesen. Es hatte viele Becken mit verschiedenen Tiefen, mehrere Rutschen und einen Außenbereich. Natürlich auch ein integriertes Restaurant, eine Sauna und einen Wellnessbereich. Alles in allem war es definitiv einen Besuch wert.
„Und nicht nur das", meldete sich Ana wieder zu Wort, „durch viel schwimmen verbrennt man auch gut Kalorien. Das ist doch super!" Sahra begann zu grinsen. Zeit mit ihren Freundinnen verbringen und gleichzeitig Kalorien verbrennen? Das war wirklich Spitze.
„Klingt gut", sagte sie also und Maria nickte zustimmend. Laila riss die Arme in die Luft und sagte: „Super!", dann sprach sie weiter, „Und danach können wir noch zu mir und einen Film gucken. Und dieses mal,", sie wandte sich Maria zu und grinste sie an, „darf ich mir den Film aussuchen."
Maria sagte leise: „Verdammt", und Sahra musste lachen. Das bedeutete also, dass sie sich irgendeinen Kinderfilm ansehen würden. Aber dagegen hatte sie nichts. Konnte ja auch ganz lustig werden.
„Können wir gerne machen", sagte sie und lachte wieder. „Na gut, von mir aus", seufzte Maria.
Es klingelte und sie gingen zurück in den Unterricht.

Einmal Ana, immer Ana.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt