Anas Zehntes Gebot

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Mit verschneiten Dächern, zugefrorenen Autoscheiben und eisglatten Straßen brach der Dienstag Morgen an. In der Nacht hatte es wieder Niederschlag gegeben und durch die sehr niedrigen Temperaturen schmolz der Schnee auch nicht. Wenn man früh genug aufstand und das Haus verließ konnte man einer der ersten sein, die die noch unberührte Schneedecke mit einem Schritt durchbrach und das leise Knirschen genießen. Das wunderbare Knirschen von frischem Schnee, der unter der Schuhsohle zusammengepresst wurde. Doch eben dieses Knirschen würde Sahra heute nicht zu hören bekommen. Dafür würde sie zu spät außer Haus sein, wenn der ganze Schnee schon zu grauem Matsch niedergetrampelt worden war. Dann musste sie nur noch darauf achten auf diesem Schneematsch nicht auszurutschen und hinzufallen. Hinfallen wäre eine kleine Katastrophe für sie, da sie befürchtete nicht mehr genug Kraft zu haben um aufzustehen. Sie fühlte sich schwach. So unendlich schwach. Treppensteigen in der Schule war zu körperlicher Schwerstarbeit geworden und das Gewicht ihrer Mappe schien sie zu erdrücken. Normales Gehen, mit oder ohne Mappe, reichte schon aus um ihre Beine vor Anstrengung zittern zu lassen und selbst bei einfachem Rumstehen, wie jetzt gerade im Badezimmer vor dem Spiegel, hätte sie sich am liebsten irgendwo festgehalten oder abgestützt. Doch gab es momentan nicht viel zum Abstützen außer dem Waschbecken vor ihr. Sie umklammerte es mit ihren dünnen Fingern so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie starrte in den Spiegel und betrachtete sich. Da sie nur Unterwäsche anhatte war der Großteil ihres Körpers freigelegt und sie konnte sich mit ihrem eigenen Blick von oben bis unten abtasten. Erst ihr Gesicht. Es war bleich und eingefallen, die Augen zierten dunkle Ringe und ihre Lippen waren spröde und rissig. Danach der obere Bereich ihres Torso. An den Schultern traten die Knochen hervor und ihre Schlüsselbeine hoben sich so deutlich ab, dass sie sogar Schatten auf die Haut warfen. Jetzt ihr restlicher Oberkörper. Die Rippen zeichneten sich tatsächlich so sehr ab, dass man sie einzeln zählen konnte und ihr Bauch wirkte wie eingesogen. Weiter zur Körpermitte wo die Beckenknochen scharf hervorstachen und zu guter Letzt ihre Beine. Sie drückte die Knie aneinander aber zwischen ihren Oberschenkeln blieb eine Lücke vorhanden, so breit, dass sie mit Sicherheit ihre aufrecht gehaltene Handfläche dazwischen schieben konnte ohne ihre Schenkelinnenseiten zu berühren.
So sah sie aus. Doch war darauf nicht ihr Fokus. Sie konzentrierte sich auf die Makel. Was sie an sich sah war Fett. Sie konnte es deutlich erkennen. Da! An ihren Armen war noch Fett, sodass sie ihren Oberarm noch nicht mit Daumen und Zeigefinger umschließen konnte. An ihren Seiten war noch Fett, an welchem sie zupfen, in welches sie sich noch reinkrallen konnte. Ihr Bauch war zwar flach aber noch nicht flach genug und an ihren Beinen wackelte beim Laufen noch immer Fettgewebe. Ekliges Fett. Widerliches Fett. Hässliches Fett. Zu viel Fett. Fett, das weg musste. Doch die Frage war: wie viel Fett, wie viel Gewicht war noch übrig bis sie ihr Ziel erreicht hatte? Wie viel trennte sie noch von dem perfekten Körper? Sie nahm die Waage aus dem untersten Regalfach (täuschte sie sich, oder schien sie in den letzten Wochen schwerer geworden zu sein?) und stellte sie auf den Boden ab. Langsam stieg sie auf die Platte.
„Bitte lass es weniger sein, bitte lass es weniger sein." 40,7 Kilogramm. Sie lächelte. Hervorragend. Das war gut. Es war weniger. Nur noch ein paar Hundert Gramm, es fehlte nicht mehr viel. Nur noch ein bisschen, dann war sie da wo Ana war. Sie stellte die Waage zurück und begann sich leicht zitternd anzuziehen. Ein Top, ein langärmeliges Shirt, einen Hoodie, Leggins, eine Jeans die ihr mittlerweile zu groß war und deswegen einen Gürtel benötigte um nicht runterzurutschen und flauschige Wintersocken. Ihr war in letzter Zeit oft kalt aber so eingepackt und mit ihrer dicken Winterjacke, bei der sie meistens noch eine Strickjacke darunter trug, ließ es sich aushalten. Außerdem verdeckten die vielen Klamotten ihre Figur. So wiesen jetzt nur noch Gesicht und Hände auf ihr fehlendes Gewicht hin.
Sachte begann sie sich die Haare zu kämmen. Viele Haare rissen aus und blieben in der Bürste hängen oder segelten zu Boden. Sie beschloss es bleiben zu lassen. Nicht, dass sie sich noch selber eine Halbglatze verpasste. Als sie ihre Bürste zurücklegte blieb ihr Blick an einer Packung Binden hängen. Ihre Periode war bereits drei Wochen überfällig. Aber schwanger konnte sie nicht sein.
Langsam schlurfte sie in die Küche. Ihre Mutter saß von ihr abgewandt auf einem Stuhl und auf Sahras Platz lag ein Brötchen bestrichen mit Nutella. Sie blieb im Türrahmen stehen. Marlene, die sie gehört hatte, drehte sich zu ihr um. Ihr Lächeln schien heute anders zu sein.
„Komm", sagte sie. „Setz dich und iss bitte etwas." Aber Sahra machte keine Anstalten sich zu setzen.
„Ich äh, wollte heute eigentlich eine Banane essen", murmelte sie. Marlenes Gesicht nahm einen flehenden Ausdruck an.
„Sahra, bitte. Bitte iss das Brötchen." Doch sie schüttelte den Kopf.
„Ich möchte wirklich nicht." Sie zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln. Ihre Mutter seufzte.
„Sahre, setz dich bitte", sagte sie und wies auf den Stuhl.
„Äh, ich kann nicht. Ich hab nur noch ein paar Minuten und muss meine Mappe noch packen", entgegnete sie schnell. Sie musste schleunigst aus der Küche raus, denn wenn sie blieb würde ihre Mutter nur weiter versuchen sie zum Essen zu kriegen. Ihr Magen verkrampfte sich zwar vor Hunger, aber sie durfte dem nicht nachgeben. Marlenes Miene wurde immer trauriger. Leise sagte sie: „Du wirst heute nicht zur Schule gehen." Verwirrt runzelte Sahra die Stirn.
„Was? Warum?", fragte sie.
„Weil...", Marlene hielt kurz inne ehe sie weitersprach, „weil wir heute einen Termin haben." Jetzt war sie nur noch verwunderter.
„Einen Termin? Wo? Bei wem? Wieso? Und warum weiß ich davon nichts?" Ihre Mutter wandte den Kopf ab und schwieg. Dann ergriff sie wieder das Wort: „Sahra... wie, wie würdest du dich beschreiben? Deinen Körper meine ich."
„Äh..." Was war das denn für eine Frage? Wie kam ihre Mutter denn jetzt darauf und vor allem; was interessierte sie das überhaupt? Aber nur die Ruhe bewahren, sie wusste, was sie auf solche Fragen antworten musste. Ana hatte sie auf solche Situationen vorbereitet. Sie durfte auf keinen Fall sagen, dass sie sich fett fühlte.
„Also naja, äh, normal würde ich sagen." Sie zuckte mit den Achseln und setzte einen möglichst unwissenden Gesichtsausdruck auf. Wieder schwieg ihre Mutter. Dann fragte sie fast flüsternd: „Fühlst du... fühlst du dich zu dick?" Ihre Stimme hatte zu zittern begonnen. Jetzt wurde Sahra nervös.
„Äh, wie kommst du denn jetzt darauf?", fragte sie und lachte kurz gekünstelt auf. Marlene drehte sich um. Ihre Wangen waren nass, Tränen tropften von ihrem Kinn auf ihr Oberteil und sie sah so verzweifelt aus, dass es Sahra schockte. 
„Sahra", sagte sie erstickt. „Weißt du... weißt du, dass du dünn bist?"
Sie starrte ihre Mutter an. Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Wieso kam ihre Mutter jetzt so plötzlich mit diesen komischen Fragen?
„Sahra", Marlenes Stimme zitterte immer mehr. „Maus. Du bist dünn. Viel zu dünn. Siehst du das denn nicht?" Sie unterdrückte ein Schluchzen. Auf einmal stand sie auf und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. „Komm her Maus", sagte sie weinend. Doch Sahra wich zurück. Was erzählte ihre Mutter da für einen Quatsch? Sie war doch nicht zu dünn! Wie kam sie darauf?! Marlene kam ein paar Schritte auf sie zu und wollte sie in den Arm nehmen aber Sahra wich noch weiter zurück. Sie stieß mit dem Rücken gegen die Flurwand, drehte sich zur Seite und rannte in ihr Zimmer.
„Sahra!", rief ihre Mutter ihr hinterher, doch sie knallte die Tür hinter sich zu und presste sich dagegen. Die Klinke wurde runtergedrückt, aber sie drückte so sehr sie konnte gegen die Tür.
„Sahra, bitte", erklang Marlenes Stimme von der anderen Seite. Sahra schniefte. „Geh weg!", rief sie erstickt und die Tränen rollten ihr die Wangen hinab. Was sollte das? Was laberte ihre Mutter da?
Marlene ließ die Klinke los und Sahra hörte sich entfernende Schritte. Sie rutschte an der Tür hinunter, zog die Beine an und blieb zusammengekauert sitzen. Sie schluchzte laut. Was war gerade geschehen? Wieso sollte sie heute nicht in die Schule? Was für ein Termin? Warum auf einmal diese Fragen? Warum, warum, warum? Und was hatte ihre Mutter vor? Sie weinte immer lauter und vergrub das Gesicht in Händen und Knien. Was sollte der Scheiß?!
Eine Hand legte sich auf ihr linkes Knie und tätschelte es.
„Schh, hey", flüsterte Ana, doch Sahra weinte nur noch geräuschvoller. Ana legte die Arme um sie. „Hey, hey, ganz ruhig. Ich bin ja da, ja? Ich bin ja da." Sahra umklammerte sie und weinte weiter. Sie zog die Nase hoch und hustete.
„Komm, komm schon, steh auf." Sie erhob sich mühselig und ließ sich von Ana zur Couch bugsieren. Als sie sich setzten zog Sahra wieder die Beine an. Ana hielt ihre Hand mit beiden Händen und strich mit den Daumen über sie.
„Was hat Marlene zu dir gesagt. Erzähl es mir." Sahra schniefte noch einmal.
„Das weißt du doch eh schon", sagte sie mit erstickter Stimme.
„Das vielleicht, aber ich möchte es von dir hören. Ich will, dass du es aussprichst." Ana hatte sich vorgelehnt und flüsterte nahe an ihrem Ohr. Sahra holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen, dann fing sie an: „Sie wollte mich zuerst wieder zum Essen bringen, dann, als ich gesagt habe ich habe keine Zeit fürs Essen, weil ich meine Tasche noch packen muss, hat sie gesagt, ich gehe heute nicht in die Schule, weil wir heute einen Termin haben. Ich habe gefragt was für einen Termin aber sie hat mir darauf nicht geantwortet und dann hat sie mich gefragt, ob ich mich zu dick finde und..." Sie brach ab. Laut schluchzte sie auf und neue Tränen liefen ihre Wangen hinab.
„Was dann?", flüsterte Ana eindringlich. „Was hat sie dann gesagt?"
„Sie hat...", Sahra heulte laut auf, „sie hat gesagt..." Weiter kam sie nicht, denn ihre Worte gingen in einem neuen Heulkrampf unter.
Was?", zischte Ana, die kaum noch eine Handbreite von Sahras Ohr entfernt war.
„Sie hat gesagt ich sei zu dünn", hauchte sie. Sie machte sich auf einen Wutausbruch von Anas Seite aus gefasst, so wie sie immer ausrastete, wenn jemand „zu dünn" sagte, doch es kam nichts. Stattdessen legte sie eine Hand unter Sahras Kinn und hob es an, sodass sie sie aus verweinten Augen angucken musste.
„Aber das glaubst du nicht, stimmt's?", fragte sie leise.
„Ich... ich...", stammelte Sahra hilflos.
Einige Sekunden blieb es still, dann sagte Ana ganz sanft: „Ich denke es ist an der Zeit für das Zehnte und letzte Ana Gebot. Möchtest du es hören?"
Sahra schluckte eine neue Tränenwelle herunter und nickte. Jetzt war sie gespannt. Wie könnte das finale Gebot wohl lauten? Was war so wichtig, dass es an höchster Stelle stand? Wieder etwas über Essen? Kalorien? Sport? Nein. Nein, bestimmt nichts so banales. Es musste bedeutsamer sein. Ana begann: „Marlene sagt vielleicht zu seist zu dünn, aber das siehst du anders, richtig? Du siehst noch immer so viel Fett an dir." Sie nickte und wimmerte.
„Genau. Und zwar, weil da eben noch kiloweise Fett vorhanden ist. Fett an deinen Armen, an deinen Seiten, am Bauch und an den Beinen. Fett, das deine Knochen bedeckt. Und dieses Fett muss noch weg, nicht wahr?" Wieder nickte Sahra.
„Genau. Und eben so und nicht anders ist es auch. Marlene kann behaupten was sie will, sie kann sagen, dass du zu wenig wiegst, aber Sahra", Ana begann zu lächeln, „merke dir das zehnte Gebot: „Du bist niemals", ich wiederhole, „niemals zu dünn"."

Einmal Ana, immer Ana.Kde žijí příběhy. Začni objevovat