Zurück im Alltag

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Sahra erwachte. Sie hatte diese Nacht weder von einem weiten, weißen, endlosen Raum geträumt, noch hatte sie mit offenem Fenster und ohne Decke geschlafen. Mühselig stand sie auf. Schule. Sie musste in die Schule. Nach so langer Zeit wieder in ihrem normalen Alltag zu sein kam ihr zwar gerade etwas seltsam vor, aber sie war sich sicher, sie würde sich schnell wieder daran gewöhnen. Einerseits freute sie sich darauf endlich Laila und Maria wiederzusehen, andererseits grauste es ihr davor die Berge an Unterrichtsstoff zu sehen, den sie verpasst hatte. Aber sie musste zur Schule. Sie musste weitermachen. Einfach wie gewohnt weiterleben.
Also schlurfte sie gähnend den Flur entlang ins Badezimmer. Doch im Bad angekommen hielt sie inne. Ihr Blick war auf etwas gefallen. Etwas, was sie seit über vier Monaten nicht mehr benutzen konnte. Ihre Waage. Sie zögerte. Sollte sie? War es überhaupt nötig? Doch sie musste es wissen. Mit zitternden Händen stellte sie die Waage auf den Boden. Eigentlich wusste sie schon, was sie ungefähr wiegen müsste, da dieses Gewicht ja ihr Zielgewicht gewesen war um aus der Klinik entlassen werden zu können, aber... aber sie musste sich sicher sein. War es mehr? War es weniger? Sie musste es einfach wissen. Also betrat sie die Platte. Als sie das Ergebnis sah wurde ihre Mimik zu Stein. In ihr war wieder dieses komische Gefühl der Leere aufgekommen, bei der sie nicht wirklich wusste, wie sie sich gerade tatsächlich fühlte. Auf dem Display stand die Zahl 55,7 Kilogramm. Starr ging sie von der Waage runter und räumte sie zurück ins Regal, dann zog sie sich an.
Ihr Frühstück aß sie langsam und in sehr kleinen Bissen aber ihre Mutter achtete darauf, dass sie alles aufaß. Als es soweit war zog sie sich an und machte sich auf den Weg in die Schule.

„Hey Sahra, schön, dass du wieder da bist!", wurde sie freudig von Laila empfangen und in eine stürmische Umarmung gezogen. Auch Maria umarmte sie und lächelte sie glücklich an.
„Ja, wirklich. Es ist schön dich endlich wiederzusehen. Wie geht es dir? Hast du dich von deiner", sie stockte kurz, „äh Lungenentzündung erholt?" Laila sah sie verwirrt an.
„Hä? Ich dachte du hattest Bronchitis."
Sahra lachte auf.
„Ich hatte beides. Erst eine Lungenentzündung und daraus hat sich dann wahrscheinlich die Bronchitis entwickelt aber angefangen hat es mit ganz normalem Husten. Deswegen war ich auch so lange im Krankenhaus." Laila sah sie mitfühlend an.
„Oh, das ist natürlich doof. Zwei solche Krankheiten direkt hintereinander. Wir dachten schon–", sie warf Maria einen Blick zu, „also Miri hatte schon die Befürchtung du könntest den Coronavirus haben. Wegen Lungenkrankheiten und so." Wieder musste sie lachen. „Ne also, so schlimm war es jetzt auch nicht, keine Sorge." Laila atmete erleichtert auf.
„Ach übrigens, danke für eure beiden Briefe. Das war echt schön was von euch zu hören."
„Bitte sehr", grinste Laila.
„Tut uns leid, dass wir nicht öfter geschrieben haben", sagte Maria schnell. „Es war nur so scheiße viel los in den letzten Monaten. Klassenarbeiten, Tests, Vorträge, riesige Projekte und Gruppenarbeiten, du hast echt eine Menge verpasst." Sahra seufzte. „Naja, Shit happens, da muss ich jetzt wohl oder übel durch." Dann fiel ihr noch etwas ein und sie zog einen Zettel aus ihrer Tasche.
„Ach ja, im übrigen, kommt ihr mit zum Sekretariat? Ich muss das hier noch abgeben." Sie wedelte mit dem Zettel vor den beiden herum. „Ist eine Sportbefreiung für das restliche Schuljahr." Laila sah sie neidisch an.
„Ich will auch eine Sportbefreiung", sagte sie gespielt schmollend.
„Ach Quatsch", grinste Sahra. „Dir tut etwas Bewegung doch ganz gut. Dann kannst du deine ganze Energie mal irgendwo rauslassen."
„Das stimmt allerdings", mischte sich auch Maria mit ein.
„Naja, kommt ihr?"
Laila lief vor und Sahra wollte ihr hinterher doch wurde sie von Maria festgehalten. Sie sah Sahra mit einem seltsamen Blick an.
„Was ist?", fragte sie verwundert.
„Sahra", sagte sie leise, „warst du wirklich wegen deiner Lunge in der Klinik? Nicht vielleicht doch wegen etwas anderem?" Sahras Gesicht fror ein. Was kam Maria denn mit dieser Frage oder... oder ahnte sie eventuell etwas?
„Äh..." Nein, sie konnte es nicht sagen. Sie konnte es ihr einfach nicht sagen. „Ja, wirklich." Sie entzog sich ihrem Griff und hastete Laila hinterher. Maria sah ihr mit diesem komischen Blick nach und folgte ihnen dann ins Schulgebäude.

Nach der Schule gingen die Mädchen zusammen in die Stadt. Ihren ersten erneuten Tag zu dritt wollten sie gemeinsam genießen. Sie streiften durch die verschiedensten Läden, quatschten und lachten dabei viel. Als sie an einem McDonalds vorübergingen blieb Laila stehen.
„Alleine wenn ich das schon rieche bekomme ich Hunger. Wollen wir nicht vielleicht etwas essen?", fragte sie und schaute sehnsüchtig zum Fast Food Restaurant.
„Ja klar, wieso nicht. Ich könnte was vertragen", stimmte Maria zu. Dann warf sie Sahra wieder diesen merkwürdigen Blick zu. „Und du?"
„Ich äh", fing sie an, doch unterbrach sie sich. In einiger Entfernung zwischen den umherlaufenden Menschen hatte sie eine Person ausgemacht. Zehn, vielleicht zwanzig Meter von ihnen entfernt. Sie stand da und beobachtete sie. Sie war dünn. So dünn, wie es nur Eine hätte sein können. Und auch wenn Sahra es aus dieser Entfernung eigentlich gar nicht hätte erkennen können war sie sich unterbewusst doch sicher, dass Ana ihr direkt in die Augen sah. Und sie schüttelte den Kopf.
Vor ihrem Gesicht schnippte jemand.
„Hallo, Erde an Sahra!", sagte Laila laut. „Was ist jetzt mit Essen?"
Sahra zögerte. Dann lächelte sie und sagte: „Ne lass mal, ich hab keinen Hunger."

Einmal Ana, immer Ana.जहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें