Wieder Sport

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Obwohl in Sahras Gliedmaßen die Schwäche noch immer präsent war und es in ihrem Kopf unablässig pochte wechselte sie ihre Klamotten und begann mit Sport. Völlig willkürlich und ohne festen Plan machte sie eine Übung nach der anderen. Alles, was ihr in den Sinn kam. Kniebeugen, Sit Ups, auf der Stelle joggen, Liegestütze, Wandsitzen, Planke, Lunges, Hampelmänner, Kniehebellauf, imaginäres Seilspringen, sie machte alles. Und dann wiederholte sie die Übungen. Ihr Atmen wurde zu einem Keuchen, an ihrer Haut rann der Schweiß herab, ihre Haare und Klamotten klebten an ihr und sie hatte Seitenstechen vom feinsten, aber sie musste weitermachen. Ihre Beine zitterten und ihre Muskeln schmerzten (sie würde spätestens morgen einen höllischen Muskelkater haben), doch trieb sie sich zu noch einer Übung. Dann noch einer. Und dann noch einer.

Sie lag auf der Couch, gerade hatte sie Fünfzig Sit Ups gemacht, und schloss für einen Moment die Augen. Pause. Nur eine kurze Pause wollte sie machen. Nur kurz die Augen schließen und durchatmen, doch packte sie jemand an den Schultern und rüttelte kräftig an ihr. Vor Schreck schnappte sie nach Luft und riss die Augen auf.
„Weitermachen Sahra!", sagte Ana laut und gab ihr einen leichten Klaps auf die Rechte Wange. „Keine Pause, weitermachen! Kalorien verbrennen!" Sahra setzte sich auf und verscheuchte Anas Hände.
„Nur kurz", sagte sie mit rauer Stimme, da ihre Kehle vom ganzen hektischen Atmen wie ausgetrocknet war. Sie hustete. „Nur kurz, bitte." Ana setzte sich neben sie.
„Gut, kurz. Aber auf keinen Fall die Augen schließen! Nicht, dass du noch einschläfst und Marlene dich dann in Sportklamotten vorfindet. Dann würde sie nur noch mehr Verdacht schöpfen."
Sahra nickte und versuchte durch tiefe, ruhige Atemzüge ihr Keuchen abklingen zu lassen. Sie stützte den Kopf in ihren Händen ab, sodass sie nun vornübergebeugt dasaß. Mit weit geöffnetem Mund atmete sie ein und aus. Ihre Zunge schien vor fehlendem Speichel ganz klebrig zu sein.
„Kannst du", sie räusperte sich, „kannst du mir mal meine Trinkflasche geben?" Mit schwacher Hand deutete sie zu ihrer Mappe. Ana seufzte tonlos und strich Sahra über den Rücken.
„Würde ich ja gerne machen, aber ich kann keine Gegenstände bewegen, geschweige denn hin und her tragen. Tut mir leid, aber das musst du selber machen."
„Ach ja, stimmt." Das hatte sie gerade ganz vergessen, dass Ana ja nicht dazu in der Lage war reale Objekte von einem Ort zum anderen zu bringen. Sie war ja nicht echt, nur eine Erscheinung. Und Erscheinungen konnten nichts bewegen.
Schwerfällig stand sie auf und schleppte sich zu ihrer Schultasche. Ihre Trinkflasche war noch zu einem Drittel gefüllt, das sollte reichen. Sie schraubte den Deckel auf und nahm gierig ein, zwei, drei große Schlucke. Es war so ein Wohlgefühl als ihr staubtrockener Hals neu befeuchtet wurde. Noch ein paar kleinere Schlücke, dann setzte sie die Flasche ab. Besser. Jetzt war es besser, jetzt konnte sie weiter machen.
Als sie sich zurück zur Couch drehte war Ana weg. Aber das machte nichts. Sahra hatte genug Motivation um weiterzumachen, das schaffte sie heute auch alleine. Sollte die Kraft sie doch noch verlassen konnte Ana ja immer noch kommen und sie vorantreiben.
Also stellte sie sich wieder aufrecht hin und begann mit einer neuen Übung: seitliches Beinheben.

Eine Tür ging auf. Sahra stoppte in ihrer Bewegung. Schritte kamen den Flur entlang und näherten sich ihrem Zimmer. Ihre Mutter kam!
Schnell hechtete sie zum Bett, warf sich auf die Matratze und zog die Decke über sich. Kaum eine Sekunde später klopfte es an der Tür.
„Maus?", fragte ihre Mutter. Sie blieb ruhig. Die Tür wurde geöffnet.
„Sahra? Kommst du essen?" Sie rührte sich nicht, tat so, als würde sie schlafen.
Im Zimmer wurde es kurz still. Sahra wagte es nicht auch nur einen Muskel zu bewegen. Dann verließen die Schritte wieder den Raum und die Tür schloss sich. Sahra öffnete die Augen. Ihre Mutter war weg.
Sehr gut, sie hatte den Köder geschluckt. Sie dachte ihre Tochter würde schlafen und so musste diese jetzt nichts mitessen. Perfekt. Grinsend stand sie wieder auf. Jetzt konnte sie weiter Sport machen. Aber sie musste leise sein. Ihre Mutter durfte nichts hören. So entschied sie sich die lauten Übungen, wie Hampelmänner oder auf der Stelle Laufen, wegzulassen. Außerdem musste sie wachsam sein. Sobald sie wieder Schritte hörte, die auf den Weg zu ihr waren, musste sie hurtig zurück ins Bett und sich wieder schlafend stellen.
Aber jetzt machte sie erst mal weiter. Planke, Dreißig Sekunden.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now