„Lass uns tanzen"

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Mit leerem Blick starrte Sahra auf die Kabinentür ihres Klos und ließ Wasser. Der Film war vorüber, die Vorstellung vorbei. Und sie hatte gegessen. Während des Films, vor allem während der Werbung, hatte sie sich ungeniert von Lailas Popcorn bedient. Jetzt im Nachhinein bereute sie es sehr. Warum hatte sie gegessen? Sie hatte sich doch fest vorgenommen im Kino die Finger von den Snacks zu lassen. Warum war sie schwach geworden? Warum hatte sie genascht? Innerlich seufzte sie. Ihr Blick festigte sich wieder und sie riss etwas Toilettenpapier ab. Warum hatte sie gegessen? Sie zog die Hose wieder hoch und spülte. Warum hatte sie nur gegessen? Kurz blickte sie auf ihren gewölbten Bauch und pikste sich ins Fett. Warum hatte sie gegessen? Dann schulterte sie den Rucksack, öffnete die Tür und trat ans Waschbecken. Gerade öffnete sich die Tür zu den Toiletten und eine andere Frau betrat den Raum und verschwand in der Kabine, die Sahra soeben verlassen hatte. Sie wusch sich die Hände und ging nach draußen. Laila und Maria waren bereits gegangen. Sie hatten sich von einander verabschiedet und jeder war seines Weges gegangen. Laila nach draußen zur Straßenbahn, Maria nach draußen zu ihrem Fahrrad und Sahra zum Klo.
Sie verließ das Cinemax. Es war sonnig, der Regen war vorbei, die Wolken hatten sich verzogen und es wehte eine leichte Brise. Sie machte sich auf den Weg zur Haltestelle. Laut Plan müsste ihre Bahn in Sechs Minuten kommen, also setzte sie sich auf die Bank um das Warten etwas bequemer zu machen. Aus ihrer Tasche holte sie ihr Handy hervor und klickte sich ein wenig durch die Apps, da erklang neben ihr plötzlich eine sehr vertraute Stimme.
„Hey Sahra." Sie zuckte zusammen und ließ beinahe ihr Handy fallen. Ihr Kopf ruckte nach links und wer saß da an ihrer Seite? Ana.
„Was tust du hier?", fragte sie doch schlug sich gedanklich die Hand vor den Mund. Verdammt, dass hatte sie gerade laut ausgesprochen. Laut! Hatte das jemand mitbekommen? Sie schaute hektisch nach links und rechts um zu schauen, ob jemand auf sie Aufmerksam geworden war, da sie gerade augenscheinlich mit der Luft geredet hatte. Doch die Haltestelle war so gut wie leer. Einige Meter weiter standen zwei Jungs, der eine mit Kopfhörern in den Ohren, der andere mit Blick auf sein Handy. Anscheinend hatten sie nichts von Sahras „Selbstgespräch" mitbekommen und sie atmete erleichtert aus. Ana kicherte.
„Pass auf du, sonst wird dir noch nachgesagt, du hättest einen an der Waffel, wenn du weiter mit der Luft redest." Sie tippte sich mit dem Zeigefinger mehrmals gegen die Schläfe und grinste. Sahra flüsterte: „Was machst du hier?", und bewegte dabei kaum die Lippen um nicht als Verrückte zu gelten. Ana lachte wieder. „Du musst nicht flüstern", sagte sie und stieß ihr in die Seite. „Du brauchst auch gar nicht zu reden, alles was du tun musst ist, zu denken. Du kannst in Gedanken mit mir reden." Ungläubig starrte sie Ana an.
„Du kannst–", setzte sie an doch Ana legte ihr einen Finger auf die Lippen und sagte lächelnd: „Gedanken Sahra. Denke das, was du mir sagen willst."
„Du kannst meine Gedanken lesen?", fragte sie in ihren Kopf hinein. Ana nickte und antwortete: „Jepp!" Sahra machte große Augen.
„Wie machst du das?", fragte sie stumm.
„Nun", begann Ana zu erklären, „das ist ganz einfach. Du darfst nicht vergessen, ich bin eine Entstehung deines Unterbewusstseins. Ich bin aus deinem Kopf entsprungen, folglich kenne ich auch alle deine Gedanken. Alles was du denkst, was du fühlst, was du durch deine Sinne wahrnimmst, alles bekomme ich auch mit. Ich bin ein Teil von dir, von deinem Kopf. Ich weiß alles, was du weißt und noch viel mehr."
Doch jetzt war sie verwirrt. Wie konnte Ana, wenn sie doch ein Teil von ihr war, mehr als sie selbst wissen?
„Weil", setzte Ana an und lachte kurz, als Sahra sie verblüfft anstarrte. „Ich kann deine Gedanken lesen, nicht vergessen, dafür musst du nicht einmal direkt fragen. Weil es einfach so ist. Ich weiß mehr als du, auch wenn ich ein Teil von dir bin. Das ist dein Unterbewusstsein. Dein Unterbewusstsein weiß mehr als dein Bewusstsein. Auf die Informationen in deinem Bewusstsein kannst du zurückgreifen und sie jeder Zeit abrufen, auf die in deinem Unterbewusstsein allerdings nicht. Du weißt die Dinge zwar, doch du weißt nicht, dass du sie weißt. Als Beispiel: Du wusstest nicht direkt, dass du durch Kälte Kalorien verbrennst, als du in der Schule gefroren hast, du wusstest es aber unterbewusst. Und ich bin dein Unterbewusstsein, dadurch kann ich dir die Informationen geben, die du nicht bewusst abrufen kannst, verstehst du?"
Sahras Mund stand leicht offen und sie versuchte das Gesagte irgendwie zu ordnen. Bewusstsein, Unterbewusstsein, bewusst... das war ihr zu oft das gleiche Wort, da konnte man doch nur durcheinander kommen. „Ja, sorry", sagte Ana und zuckte mit den Schultern, „besser habe ich es halt nicht erklärt bekommen."
„Alles gut", dachte Sahra. „Also, wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist es so, dass dadurch, dass du mein Unterbewusstsein bist, du mir Informationen geben kannst, die ich zwar kenne, aber nicht weiß, dass ich sie kenne, richtig?" Ana kicherte.
„Du hast das ja sogar noch komischer erklärt als ich, aber ja, so ist es."
„Wow", dachte Sahra beeindruckt.
Ana klatschte die Hände auf die Oberschenkel. „So, jetzt zu dem, warum ich überhaupt hier bin." Sie horchte auf. „Also, ich bin hier, um dir zu sagen, dass du den Weg nach Hause lieber zu Fuß gehen solltest, als mit der Bahn zu fahren."
„Warum?", fragte Sahra gedanklich. Ana seufzte. „Na weil du Popcorn gegessen hast. Durch das Gehen verbrennst du einen Teil der Kalorien wieder, ist klar oder?"
Sie nickte. Ja, das war klar. Sie hatte gegessen, auch noch Knabbereien, und das musste wieder verbraucht werden. Ana stand auf. „Also, kommst du?" Sie erhob sich ebenfalls und verließ mit ihrer, für die anderen unsichtbaren, Freundin die Bahnhaltestelle.
„Das wird aber lange dauern, bis ich da bin", sprach sie in ihren Kopf hinein.
„Na umso besser", antwortete Ana, „dann bleibt weniger Zeit zuhause zu essen. Und wenn du schnell da sein willst, aus Grund XY, dann Jogge. Du bist schneller und es verbrennt mehr."
Zögerlich beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie langsam begann zu joggen. Ana lief im gleichen Tempo neben ihr her.
„Aber wenn ich laufe kann ich nicht reden, da ich sonst sehr schnell Seitenstechen bekomme", keuchte Sahra. Ana kicherte wieder. „Du musst ja auch nicht reden, du musst nur denken. Also, Klappe zu und Gehirn an."
Innerlich gab sie sich einen Facepalm. Stimmt ja, sie musste ja nicht sprechen, sie konnte es Ana doch in Gedanken mitteilen. Das war schon praktisch. „Ziemlich praktisch, nicht war? So können wir rede, ohne dass  jemand denkt du führst aktiv Selbstgespräche", lachte sie.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now