Gegenmaßnahmen

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„Tu es."
„Ich kann nicht."
„Versuch es."
„Aber–"
Versuch es."
Sahra beugte sich über die Kloschüssel. Zitternd schob sie sich Zeige- und Mittelfinger in den Mund. Weiter. Und weiter. Noch ein Stück. In ihr kam ein äußerst unangenehmes Gefühl auf. Sie hustete kurz, würgte und zog die Finger reflexartig wieder raus. Sie blickte zu Ana.
„Ich kann nicht", sagte sie schwach.
„Probier es damit", sagte Ana und zeigte auf ihre Zahnbürste. Sahra erhob sich, griff danach und beugte sich wieder über die Toilette. Langsam schob sie sich das Ende in den Rachen. Das unangenehme Gefühl kam wieder und schnell zog sie die Zahnbürste wieder raus.
„Ich kann nicht", hauchte sie. Ana kniete sich neben sie.
„Okay. Es ist okay. Dann machen wir etwas anderes. Komm, steh auf." Mit zitternden Beinen stand sie auf und schloss den Klodeckel wieder. „Komm, zieh dich aus." Mit starrem, zu Boden gerichtetem Blick streifte sie ihre Kleidung ab. Sie sah an sich herab. Ihr Bauch war eine einzige Kugel. Er wölbte sich hervor und verdeckte von oben ihre Füße.
„Komm." Ana zog sie zur Dusche. Verheult, aber auch fragend sah sie sie an. „Was soll ich–"
„Du sollst kalt duschen." Ihre Augen weiteten sich. „Wenn du kalt duschst, verbrennt dein Körper Kalorien um sich wieder aufzuwärmen."
„Ich kann ni–"
„Versuch es." Sie trat in die Kabine, nahm den Duschkopf zur Hand, drehte die Temperatur runter und machte das Wasser an. Sie zuckte zusammen, als das kalte Wasser ihre Füße traf.
„Jetzt versuch dich drunter zu stellen", erklang Anas Stimme, leiser, übertönt vom Wasserstrahl. Langsam führte sie den Wasserstrahl ihre Beine hinauf. Doch an den Oberschenkeln stoppte sie. Sie konnte das nicht. Sie war ein absoluter Warmduscher. Ihr Arm war wie blockiert. Sie konnte die Hand nicht weiter heben.
„Ich schaff es nicht", flüsterte sie. Eigentlich hätte man sie überhaupt nicht verstehen können, doch Ana verstand dennoch alles. Sie verstand Sahra ja auch, wenn diese absolut nichts sagte.
„Versuch dir ein wenig Wasser auf die Hand zu machen und damit deinen Bauch und so zu befeuchten." Sie presste die Lippen zusammen, hielt ihre freie Hand unter dir Brause und, sie zögerte, drückte sie gegen ihren Bauch. Kalt. So kalt. Sie zuckte nach hinten, weg von ihrer Hand.
„Es geht nicht", flüsterte sie und neue Tränen kullerten ihr aus den Augen. Ana seufzte. „Dann komm wieder raus." Sie stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Ohne Ana anzusehen trocknete sie sich ab und zog sich wieder an. Sie schämte sich. Dafür, dass sie zu feige war. Zu feige zum kotzen, zu feige zum kalt duschen. Mit gesenktem Kopf trat sie vor Ana.
„Dann bleibt dir nur noch das Eine", sagte sie.
„Sport", murmelte Sahra.
„Sport", wiederholte Ana. Langsam, ganz langsam und weiter weinend ging sie zurück in ihr Zimmer. Sie holte sich neue Sportsachen aus ihrem Kleiderschrank, Sport BH und Stoff Hot Pant, zog sich um und begann.

„Ich kann nicht mehr", keuchte Sahra, versuchte sich von der Couch hochzustemmen, doch verweigerten ihre Arme den Dienst. Völlig erschöpft, schweißüberzogen, mit zitternden Muskeln und hechelndem Atem blieb sie auf der Couch liegen. Ana saß auf der Armlehne, mit überschlagenen, dünnen Beinen und betrachtete sie.
„Sahra", sagte sie ernst, „wenn du jetzt aufhörst wirst du Fett ansetzen. Hörst du? Du wirst fett werden." Doch Sahra keuchte nur.
„Ich kann... nicht mehr." Und das stimmte auch. Das Einzige wozu sie noch in der Lage war, war pfeifend und röchelnd zu atmen. Ana musterte sie kurz ehe sie sagte: „Okay. Dann hör auf. Aber wir müssen uns etwas überlegen, damit du nicht zunimmst." Sahra hustete. Ihre Kehle war staubtrocken und fühlte sich rau wie Sandpapier an.
„Und was?", keuchte sie. Ana beugte sich über sie. „Ich denke die beste Möglichkeit wäre es die nächsten Tage so wenig wie nur möglich zu essen. Am besten wäre fasten." Sahras Augen weiteten sich.
„Aber... ist fasten nicht ungesu–"
„Dünn sein ist wichtiger als gesund sein", unterbrach Ana sie. „Und nein, fasten ist nicht ungesund. Viele Menschen fasten und nehmen dadurch super gut ab. Außerdem wäre das wohl wirklich die beste Möglichkeit nicht zuzunehmen. Also, was sagst du? Probier es aus, die nächsten Tage zu fasten, oder, falls dich Marlene zum Essen zwingt, versuche so wenig wie möglich zu essen. Zwei Äpfel am Tag oder so, aber nicht mehr, okay?" Ächzend richtete sie sich auf, sackte aber sofort mit dem Rücken gegen die Lehne. Langsam beruhigte sich ihre Atmung wieder und sie fragte: „Für wie lange?"
„Hmm, ich würde sagen bis Donnerstag Nachmittag. Das wären ungefähr zweieinhalb Tage und das kriegst du hin, nicht wahr?" Sahra schloss die Augen. Zweieinhalb Tage, das war einiges an Zeit, in der sie Fasten sollte. Würde sie so lange überhaupt durchhalten? Sie hatte es ja noch nicht einmal einen Tag geschafft ohne Essen auszukommen, würde sie dann zweieinhalb Tage überstehen können? Andererseits müsste sie ja nicht komplett Fasten, sie durfte, wenn es sein musste, eine Kleinigkeit essen. Das hatte Ana ja erlaubt. Aber...
„Aber was, wenn ich dann wieder einen Fressanfall kriege?" Ana überlegte kurz, dann schnipste sie und begann zu lächeln.
„Wir werden es so machen: sobald du drohst schwach zu werden ziehst du dich in dein Zimmer zurück um sicher zu sein."
„Aber wenn –"
„–Wenn das gleiche wie heute passiert? Dass du deine Süßigkeiten wegfutterst? Da habe ich eine Idee! Hast du hier vielleicht irgendwo einen alten Schuhkarton oder eine andere Schachtel, die du nicht mehr brauchst, rumzuliegen?"
„Ähm klar, bestimmt. Waru–"
„Sag ich dir gleich. Hol erst mal die Kiste." Mit zitternden Knien erhob sich Sahra von der Couch und ging zu ihrem Schrank. Darin hatte sie mit Sicherheit noch eine alte Kiste. Irgendwo. Sie hob gerne Boxen, Schachteln, Kisten und Kartons auf, für den Fall, dass man einmal eine benötigte. So wie jetzt. Von einem der oberen Fächer zog sie einen alten (sehr alten) Schuhkarton herunter. Sie schüttelte ihn kurz um zu überprüfen, ob er leer war – ja war er – und ging mit ihm zurück zur Couch.
„Hier", sagte sie und zeigte Ana den Karton.
„Sehr gut. Und jetzt brauchen wir noch Klebeband."
„Okay, warte kurz." Sie stellte die Kiste ab und trat dann zu ihrem Schreibtisch. Hier musste doch irgendwo eine Rolle Klebeband liegen, da war sie sich sicher. Irgendwo in dem Chaos auf dem Tisch. Sie hob einige Blätter hoch, doch darunter lagen nur Stifte. Sie schob eine Schachtel beiseite, doch dahinter war nur eine Schere und ein Kugelschreiber. Schließlich fand sie es doch noch, ganz hinten von Zetteln bedeckt. Eine Rolle gelbes Klebeband. Papierklebeband. Sie hielt es hoch, damit Ana es sehen konnte, doch diese schüttelte den Kopf.
„Nein, wir brauchen stärkeres Klebeband, das da ist zu schwach. Panzertape oder Paketklebeband wäre ideal." Sahra hielt inne.
„Ähm..." Panzertape, wo sollte sie das denn herbekommen? Aber Paketklebeband hatten sie bestimmt. Hier irgendwo in der Wohnung. Das gehörte ja fast schon mit zu einem normalen Haushalt dazu. Die Frage war nur: wo könnte es sein? Sie überlegte.
In ihrem Zimmer konnte es schon einmal nicht sein. Im Wohnzimmer? Eher unwahrscheinlich. Im Schlafzimmer ihrer Mutter? Wäre im Bereich des möglichen. Vielleicht aber in der Abstellkammer. Ja, das könnte durchaus sein. Sie eilte aus ihrem Zimmer zur Abstellkammer. Hektisch öffnete sie die Tür und begann das Regal zu durchwühlen. Kisten, Kartons, Handfeger und Schaufel. Und das Klebeband! Sie ergriff es und ging damit zurück in ihr Zimmer.
„Sehr gut", lächelte Ana sie an. „Du hast bestimmt schon erraten, was du tun sollst, nicht?" Sie nickte. Ja, was Ana vorhatte (was sie ausführen sollte) war offensichtlich: alle ihre verbleibenden Süßigkeiten in den Karton packen und dann zukleben. So käme sie auf Anhieb nicht mehr an sie heran. So wäre sie vor der Versuchung geschützt.
Sie sammelt ihre verbleibenden Süßkram auf, die Haribo Packung, die verstreuten Nimm zwei, die Reste des Hasen und die beiden verbleibenden Lollies. Mit den Sachen auf dem Arm setzte sie sich zurück zu Ana. Diese deutete auf den Schuhkarton.
„Na dann, rein damit." Sahra begann die Kiste zu befüllen.
Es passte alles rein. Sie verschloss die Box mit dem Deckel, dann hielt sie inne und warf Ana einen Blick zu. Diese nickte. Sie nahmen die Paketklebeband Rolle und setzte an.
„Verkleb es ganz fest, damit du auch ja nicht rankommst. Am besten machst du einen kompletten Kokon aus Klebeband." So begann sie den Karton zu umwickeln. Einmal, zweimal, dreimal. Die komplette Länge über spannte sie das Klebeband. Alle Seiten wurden verklebt, bis der alte Schuhkarton nur noch ein braun glänzender Quader war. Sie durchtrennte das Klebeband und ließ den Arm sinken. Fertig. Ana lächelte sie an.
„Sehr gut", sagte sie. „Und jetzt ab damit in den Schrank." So stand sie auf, hob den Karton hoch und räumte ihn in das mittlerweile leere Süßigkeiten Fach. Sie verharrte noch einen Augenblick und starrte die Kiste an, ehe sie die Tür schloss und zurück zur Couch ging. Sie drehte die Klebeband Rolle in ihren Händen.
„So, fühlst du dich jetzt besser?", fragte Ana und strich ihr über die Schulter. Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Ja, irgendwie war es besser. Jetzt hatte sie immerhin die Gewissheit, dass sie, falls sie wieder einen Fressanfall bekäme, nicht mehr an die Süßigkeiten in ihrem Zimmer rankommen konnte. Diese waren jetzt verklebt und verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk und so leicht würde sie den Karton nicht aufbekommen. Die Rolle glitt ihr aus den Händen, fiel auf den Boden und rollte einen Meter weiter bis sie umfiel.
„Meinst du, du wirst noch Sport machen können?" Sahra warf Ana einen erschöpften Blick zu.
„Muss das wirklich noch sein? Ich kann echt nicht mehr." Als Untermalung lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Ana schwieg kurz, dann sagte sie: „Wie wäre es damit: du machst jetzt noch Dreihundert Hampelmänner, dann darfst du für heute aufhören, okay?" Sahra stöhnte auf. „Dreihundert? Echt jetzt, so viel?"
„Du kannst auch Fünfhundert machen", lachte Ana. Sie seufzte. Gut, dann Dreihundert. Mit Beinen, die sich anfühlt als wären sie aus Toastbrot, stand sie auf, stellte sich in die Mitte ihres Raumes und begann.
Fünfzig Stück. Pause. Fünfzig Stück. Pause. Fünfzig Stück. Pause. Fünfzig. Pause. Fünfzig. Pause. Fünfzig. Pause.

„Ach und eine Sache noch." Sahra drehte sich um. Sie hatte geduscht, sich bettfertig gemacht und wollte sich gerade hinlegen.
„Was denn?", fragte sie.
„Es gibt noch eine Möglichkeit, wie du Kalorien verbrennen kannst. Und das Beste ist, du musst nicht einmal aktiv etwas dafür machen." Ana strahlte sie voller Begeisterung an. Sahra stutzte. Noch mehr Kalorien verbrennen? Hatte sie heute nicht schon genug verbraucht? Ana schüttelte den Kopf. „Nein, hast du nicht. Außerdem ist es nie verkehrt Kalorien bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verbrennen." Langsam nickte sie.
„Okay, und welche Möglichkeit soll das sein?" Ana grinste und erhob sich von der Couch. „Es ist ganz einfach. Ein wenig wie kalt duschen aber ohne Wasser." Sahra unterbrach sie: „Aber ich konnte doch noch nicht einmal kalt duschen, wie soll ich dann–" Ana redete dazwischen: „Das ist ganz einfach. Und du musst dafür wirklich nichts tun. Das Einzige was du machen musst ist das Fenster öffnen", sie deutete zum Fenster, „und ohne Decke schlafen", sie wies auf das Bett. „Dadurch, dass dir kalt wird, verbrennst du Kalorien und du musst dafür wie gesagt auch überhaupt nichts machen. Du musst nur rumliegen und einschlafen." Sahra starrte sie an. Das Fenster öffnen? Und keine Decke?
„Alter, wir haben Dezember, es ist arschkalt draußen! Ich will nicht krank werden."
Ana lächelte. „Es geht doch um die Kälte. Es soll ja kalt werden. Außerdem, solltest du krank werden, könntest du Zuhause bleiben und es wäre über den halben Tag hinweg niemand hier, der dich zum Essen zwingt. Du könntest ganz einfach fasten, das wäre doch vorteilhaft, nicht?" Sie sah sie fassungslos an. Krank werden wäre für sie von Vorteil? Das konnte doch bitte nicht ihr Ernst sein! Anas Lächeln wich einem bösem Blick. „Doch, das ist mein voller Ernst. Du willst nicht zunehmen? Dann verbrenn Kalorien. Du willst kein Sport machen? Dann tu was ich dir sage! Friere und faste." Sahra senkte den Kopf. Nein, zunehmen wollte sie nicht. Zunehmen wäre katastrophal. Abnehmen war gut, zunehmen war schlecht. Sie wollte dünn werden? Dann sollte sie Anas Ratschläge befolgen. Schließlich nickte sie.
„Gut", sagte Ana knapp. Sahra schniefte. Ana ging ein paar Schritte auf sie zu, blieb vor ihr stehen und hob ihr Kinn an. Sie lächelte jetzt wieder.
„Hey, nicht weinen, ja? Ist doch alles gut. Ich will dir doch nur helfen." Sahra nickte und brachte ein kleines Lächeln zustande. Ana strich ihr über den Oberarm, dann zog sie sie in eine Umarmung. Sahra erwiderte diese und das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. Sie schloss die Augen.
„Am besten", sagte Ana, als sie sich wieder gelöst hatten, „du räumst deine Decke auf die Couch."
„Warum?", fragte sie verwirrt. Ana erklärte: „Damit die Decke außerhalb deiner Reichweite ist. Wenn sie auf der Couch ist kannst du sie im Schlaf nicht erreichen und dich somit nicht doch noch zudecken." Sie nickte. Ja, das klang logisch. Sie hob ihre wunderbar weiche Decke hoch und trug sie zu einem Knäuel gewickelt zur Couch rüber. Dann öffnete sie das Fenster. Auf ihrem Körper bildete sich sofort eine Gänsehaut, als die kalte Luft zu ihr herein wehte. Schnell legte sie sich in ihr Bett und schaltete ihre Nachttischlampe aus. Es fühlte sich ungewohnt an keine Decke über sich zu haben, die einen umhüllte und wärmte. Naja, wenigstens hatte sie noch ihren Schlafanzug, der ihre Haut zumindest etwas bedeckte.
„Ach ja, der Schlafanzug", erklang Anas Stimme aus der Dunkelheit. „Eigentlich wäre es am effektivsten, du würdest ihn auch noch ausziehen. Aber gut, ich will mal nicht so sein. Es ist schließlich deine erste Nacht unter diesen Umständen. Du sollst dich Stück für Stück daran gewöhnen."
„Danke", murmelte Sahra und zog die Beine an ihren Oberkörper um ihren Bauch ein wenig zu wärmen. Sie seufzte. Würde sie überhaupt einschlafen können?
„Gute Nacht", flüsterte Ana.
„Gute Nacht", nuschelt Sahra.

Einmal Ana, immer Ana.Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin