Anas Viertes Gebot

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Der Dienstag verlief ereignislos. Aufstehen, Schule, Netflix, Schlafen, so sah Sahras Tagesablauf aus. Nichts spannendes war passiert. Das Einzig erwähnenswerte wäre vielleicht, dass sich Maria nach der Vierten Stunde, Mathe, hat abholen lassen, weil ihr ziemlich schlecht geworden war. Ansonsten war nichts passiert. Ana hatte sich nicht mehr gemeldet, aber Sahra hatte brav ihre Aufforderungen erfüllt und hatte während des Unterrichts mit den Beinen gewackelt.
Erst am Mittwoch Abend, beziehungsweise in der Nacht geschah wieder etwas.
Es war 19:07 Uhr. Sahra brütete über den Hausaufgaben, die sie in Mathe aufbekommen hatten und schob sich zwischendurch immer mal wieder ein paar Gummibärchen in den Mund. Eigentlich wollte sie nichts Süßes naschen, aber sie konnte sich selbst nicht aufhalten. Ihre Mutter war einkaufen gewesen und hatte ihr eine große Haribo Packung mitgebracht und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen die leckeren Gummitiere zu essen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, rechtfertigte sich aber vor sich selbst damit, dass sie Energie brauchte um die Hausaufgaben zu machen. Also aß sie immer wieder eines, solange, bis sie mit Mathe durch war. Danach verschloss sie die Packung wieder, nachdem sie sich noch ein letztes genommen hatte, und verstaute die Dose in ihrem Schrank. Dort hatte sie nämlich ein extra Regalfach für ihren Süßkram.
Momentan lagen da noch eine angefangene Tafel Schokolade, ein übriggebliebener KinderCountry, Nimm 2 Bonbons, zwei Lollie, ein schon etwas älterer Milka Schokohase, ein Überraschungs-Ei, Kaugummis und eben die Haribo Packung. Eine tolle Ansammlung.
Sie schloss die Schranktür wieder und räumte die erledigten Hausaufgaben beiseite. Morgen hatten sie wieder Mathe, deshalb musste sie die Aufgaben gleich heute erledigen. Sonst geschah das Gleiche wie am Montag und sie stand ohne Hausaufgaben auf der Matte. Und das wollte sie nicht. Sie wollte vorbildlich bleiben und nicht die Richtung von Tom einschlagen. Nein, das würde sie nicht.

Sahra gähnte und streckte sich. Ihr Muskelkater verschwand langsam. Bald würde sie wieder Sport machen können. Natürlich könnte sie auch weiter in ihrem Zimmer umhergehen, aber darauf hatte sie keine Lust. Das war ihr zu eintönig, zu fade, sprich zu langweilig. Sie würde jetzt einfach wieder etwas gucken oder auf ihrem Handy spielen, so lange, bis sie ins Bett ginge.
Aber zuvor wollte sie etwas trinken. Sie ging in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Sie gewöhnte sich langsam an den langweiligen Geschmack des Wassers. Kein Saft, keine Süße, kein Wasser mit Geschmack. Das wäre ihr dann doch zu teuer, sich ständig etwas kaufen zu müssen. Leitungswasser reichte vollkommen aus.
Sie leerte das Glas und ging zurück in ihr Zimmer. Jetzt würde sie zur Abwechslung mal YouTube gucken.

Als es dann kurz nach Zehn Uhr war, machte sie sich bettfertig. Zähneputzen, Haare kämmen, auf Toilette gehen, das ganze Programm. Sie sagte ihrer Mutter gute Nacht und legte sich in ihr Bett. Doch schlafen konnte sie nicht. Irgendwie war es ihr zu stickig. Also stand sie noch mal auf und öffnete das Fenster. Dann würde sie diese Nacht wohl mal mit offenem Fenster schlafen.

Als ich die Augen aufschlage blendet mich das Weiß des Raumes. Ich blinzle schnell und reibe mir die Augen. Die Luft ist angenehm frisch. Ich bin wieder hier. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich das voll und ganz realisiert habe. Dann beginne ich freudig zu lächeln. Ich bin wieder hier! Erwartungsvoll drehe ich mich um und da steht sie. Da steht Ana. Rock, Bluse, schwarze Haare, genauso wie immer.
Ich kann nicht an mich halten und renne auf sie zu. Bei ihr angekommen schlinge ich meine Arme um ihren schlanken Körper und drücke sie an mich. „Da bist du ja! Ich hab dich so vermisst! Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, warum du nicht mehr da warst und als du mich am Montag in meinem Kopf angesprochen hast, war ich so froh, dass du mich doch nicht verlassen hast und dann warst du wieder weg und ich wieder alleine, aber ich habe getan was du wolltest und hab mich bewegt, aber ich hab die ganze Zeit gehofft, dass du wieder kommst! Und jetzt bist du wieder da! Ich freue mich ja so!" Das alles sprudelt nur so ohne Punkt und Komma aus mir heraus und Ana legt ihre Arme auch um mich. „Warum warst du denn weg?", frage ich sie, lehne mich ein Stück zurück und schaue sie an. Sie schmunzelt. „Jetzt erst mal ganz langsam. Beruhige dich, atme durch, dann erkläre ich dir alles."
„Ich bin ruhig!", erwidere ich. Sie zeigt mir den Vogel und lacht: „Das glaubst du doch wohl selber nicht." Ich lasse von ihr ab und hole einmal tief Luft, halte sie für wenige Sekunden und atme sie dann wieder aus. „Okay, also: Warum warst du weg und wieso bist du jetzt wieder hier?"
Ana beginnt: „Nun, warum du eine Zeitlang nicht von mir geträumt hast liegt daran, dass ich dir bis dato nichts mehr zu sagen hatte. Das klingt jetzt böse, aber so ist das nicht gemeint. Ich erscheine dir immer, wenn ich dir etwas zu sagen habe. Ein Ana Gebot, ein Tipp, oder um dich zu motivieren. Aber die letzten beiden Tage über gab es nichts, worüber ich mit dir hätte reden wollen, also hast du nicht von mir geträumt. Als du in der Schule warst am Montag, da habe ich dir nur schnell einen Tipp gegeben um ein paar Kalorien zu verbrennen. Das werde ich in Zukunft übrigens öfters machen. Ich werde manchmal, in bestimmten Situationen, zu dir sprechen, oder dir erscheinen, und dir Tipps geben. Oder dich motivieren. Je nachdem was du gerade brauchst. Aber die letzten Tage wollte ich mal, dass du auf dich alleine gestellt bist, um zu gucken, wie du dich so machst. Und ich muss leider sagen: Hättest du dich gut gemacht, dann wäre ich jetzt nicht hier."
Sie sieht mich ernst an. Ich bin verwirrt. „Wie? Hab ich was falsch gemacht?", frage ich und bekomme sofort ein schlechtes Gewissen. Ana seufzt. „Also wenn du schon so fragst, dann ja, du hast etwas falsch gemacht. Und zwar nicht nur eine Sache. Deswegen bin ich jetzt wieder hier, um mit dir darüber zu sprechen. Eigentlich, dass muss ich dir sagen wie es ist, ist es ein besseres Zeichen, wenn du nicht so oft von mir träumst. Das zeigt nämlich, dass du auf dem richtigen Weg bist und dabei wenig Unterstützung von mir brauchst." Sie schaut mich ernst an.
„Oh...", bringe ich nur heraus. „Was... was habe ich denn falsch gemacht?"
Und sie legt los: „Also, Erstens; du hast zu viel gegessen. Viel zu viel und auch zu viel Süßes. Ich sag nur Gummibärchen."
Innerlich gebe ich mir einen Facepalm. Ja... die Gummibärchen. Ich hatte beim Essen schon ein schlechtes Gewissen, habe aber nicht aufgehört und immer weiter gegessen. Beschämt schaue ich zu Boden. „Dir fehlt es an Disziplin Sahra. Du isst und isst und isst und hörst nicht auf. Und dann auch noch Süßigkeiten! So wirst du niemals, ich wiederhole, NIEMALS dünn werden! Du wirst zunehmen, du wirst fett werden, wenn du so weiter machst! Und ich dachte das willst du nicht!" Ana wird bei jedem Wort immer lauter und funkelt mich zornig an. „Ich habe dir doch schon mal gezeigt, was passiert, wenn du weiter so viel frisst! Und du hast mir da gesagt, dass du so niemals aussehen willst! Aber das scheinst du wohl vergessen zu haben, sonst würdest du damit aufhören dir Süßkram in den Hals zu stopfen!" Ana schreit jetzt und langsam rollen mir Tränen meine Wangen hinunter. Sie hat recht, sie hat ja so recht! Ich habe keine Disziplin, ich habe keine Kontrolle, ich kann gar nichts! Ich bin schwach und esse und esse und esse. Und wenn ich so weiter mache werde ich wirklich noch fett. So fett wie Ana es mir gezeigt hat. Aber das will ich doch nicht! Ich will dünn werden, ich bin jetzt schon dick.
Ich wimmere und ziehe den Kopf ein. „Ich weiß, ich weiß, du hast recht, du hast so recht", flüstere ich, den Kopf gesenkt haltend.
„Natürlich hab ich recht", spuckt sie mir entgegen, holt Luft, schließt die Augen und atmet langsam wieder aus.
„Zweitens;", sagt sie, nun wieder mit ruhiger Stimme, „du hast kaum Sport gemacht. Ja, Schulsport zwar, aber der zählt nicht dazu."
„Aber ich bin doch umhergelaufen!", erwidere ich, halb entrüstet, halb erklärend. „Außerdem hatte ich einen echt miesen Muskelkater, damit konnte ich wirklich keinen Sport machen", erkläre ich weiter.
„Muskelkater hin, Muskelkater her, das ist keine Erklärung dafür, dass du keinen Sport gemacht hast, es ist eine Ausrede. Du warst in Wirklichkeit nur zu faul und undiszipliniert um Sport zu machen. Du hattest keine Lust und um dich zu rechtfertigen hast du den Muskelkater als Ausrede benutzt." Ich bleibe stumm. Stimmt das? Habe ich das wirklich nur als Ausrede genutzt, weil ich einfach zu faul war? Aber ich habe es doch probiert, ich wollte doch Sport machen, aber wegen der Schmerzen ging es einfach nicht. Oder ist das wieder nur eine Ausrede? Hätte ich doch Sport machen können, war aber einfach zu faul dafür?
„Und ja,", fährt Ana fort, „du bist umhergegangen und hast dadurch Kalorien verbrannt. Zwar kein richtiger Sport, aber ich bin stolz auf dich, dass du selbstständig nach anderen Möglichkeiten gesucht hast."
Ich stocke. Meine Gedanken frieren ein. Sie hatte es gesagt. Sie ist stolz auf mich. Ana ist stolz auf mich! Ein Glücksgefühl durchströmt mich und fegt die Grübeleien beiseite. Ich lächle sie an. Sie ist stolz auf mich. Sie lächelt zurück und streicht mir über den rechten Oberarm. „Ja, ich bin dahingehend stolz auf dich." Dann umarmt sie mich. Ich erwidere die Umarmung und das Glücksgefühl schwillt an. Ich lächle weiter, auch als wir die Umarmung lösen. Dann spricht sie weiter: „Drittens; und das ist einer der Hauptgründe, warum ich heute hier bin ist folgender: Du hast dich nicht gewogen. Schon seit mehreren Tagen nicht." Das Lächeln verschwindet aus meinem Gesicht. „Oh...", bringe ich heraus. Das Wiegen habe ich total vergessen! Innerlich gebe ich mir noch einen Facepalm. Wieso habe ich das Wiegen vergessen? Wie soll ich denn bitte überprüfen, ob ich zunehme oder abnehme, wenn ich mich nicht wiege?!
„Ja, ich, äh... tut mir leid,", sage ich kleinlaut.
Ana hebt mein Kinn an. „Hör zu, du wirst jetzt folgendes machen: Du wirst jetzt gleich aufwachen, dann wirst du ins Bad gehen, dich auf die Waage stellen und dann sofort wieder ins Bett gehen und wieder einschlafen. Ich warte hier solange auf dich."
Unsicher schaue ich sie an. „Ich, aber... ich glaube so schnell kann ich nicht einschlafen." Sie lächelt wieder. „Alles gut, dafür werde ich schon sorgen."

Sahra schlug die Augen auf. Es war dunkel aber die Luft war angenehm frisch. Mit der Hand tastete sie neben ihrem Kopfkissen nach ihrem Handy. Sie bekam es in die Finger und schaltete es an. Oh Scheiße, war das hell! Das Display leuchtete, trotz herunter gedrehter Bildschirmhelligkeit, so stark, dass es in den Augen weh tat. Sie blinzelte und las die Uhrzeit ab. Es war 2:42 Uhr.
Sie aktivierte die Taschenlampe und rappelte sich auf. Das Fenster war noch immer offen. Sie ging zu ihm und schloss es. Jetzt ins Bad.
Sich die Augen reibend, um eine bessere Sicht zu bekommen, schlich sie sich den Flur entlang zum Badezimmer. Sie schaltete das Licht an und holte die Waage vorsichtig aus dem Regal. Langsam stellte sie sie ab. Sie durfte keine zu lauten Geräusche machen, sonst könnte ihre Mutter aufwachen.
Sie stellte sich auf die Waage. 54,2 Kilogramm. Sie starrte das Display an und schloss die Augen. Mist, Mist, Mist! Sie wollte doch abnehmen aber stattdessen nahm sie nur immer weiter zu! Das konnte doch nicht sein. Obwohl... doch, konnte es. Ana hatte es gesagt. So wie sie jetzt aß und Süßigkeiten in sich reinschaufelte, würde sie nur zunehmen.
Sie räumte die Waage zurück, schaltete das Licht aus und schlich wieder in ihr Zimmer.
Sie hatte zugenommen. Ana würde bestimmt sauer sein. Sie legte sich zurück ins Bett und wickelte die Decke schützend um sich.

Ich öffne die Augen. Ana steht vor mir und sieht mich mit einem ausdruckslosem Gesicht an. Ich senke den Kopf. „Zugenommen", sage ich nur. „Ich weiß Schätzchen, ich weiß. Nichts anderes habe ich erwartet,", seufzt sie und tätschelt mir die Schulter.
„Es tut mir leid", murmle ich. Sie sagt nichts, sieht mich einfach nur an. Eine Weile stehen wir so da, bis sie wieder beginnt: „Das Vierte Ana Gebot. Es passt wieder sehr gut zu der momentanen Situation. Soll ich–"
„Sag bitte!", unterbreche ich sie. „Viertes Ana Gebot lautet: „Die Anzeige der Waage ist das Wichtigste"." Ich bleibe stumm.
„Das bedeutet, dass man die Waage nicht vernachlässigen soll. Man soll sich wiegen, oft wiegen. Und die Anzeige ist sehr wichtig für dich. Was die Waage sagt muss in deinen Kopf hinein und je weniger sie anzeigt, desto besser. Wiederhole es."
Ich blicke auf und hole Luft. „Die Anzeige der Waage ist das Wichtigste. Ich soll mich wiegen und je weniger die Waage anzeigt, desto besser."
Sie lächelt. „Sehr gut", lobt sie mich. „Also, was wirst du in Zukunft tun?", fragt sie mich.
„Ich werde mich öfter wiegen", sage ich.
„Sehr gut, und was noch?" Ich zögere und sehe sie fragend an.
„Worüber haben wir vorhin noch geredet?", versucht sie mir auf die Sprünge zu helfen.
„Ah, äh... ich werde äh, mehr Sport machen und ähm... weniger Süßigkeiten essen. Generell werde ich weniger essen."
„Geh lieber soweit und streiche Süßigkeiten komplett von deinem Speiseplan", sagt Ana und schaut mich ernst an. „Äh... okay, ich werde es versuchen", sage ich.
„Sehr gut,", sie lächelt. „Und es gibt eine Sache die ich dir noch sagen möchte."
„Okay", sage ich zögerlich.
„Du hast vorhin gesagt, ich hätte dich alleine gelassen, weil du nicht von mir geträumt hast." Sie schaut mir in die Augen und spricht weiter: „Aber das stimmt so nicht. Ich habe dich nicht alleine gelassen, ich bin dir nur nicht erschienen, das ist ein Unterschied. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich niemals allein lassen werde. Ich werde immer bei dir sein, dich immer unterstützen und dir helfen. Auch wenn ich mich nicht immer bemerkbar mache, merke dir, ich werde immer im Hintergrund bei dir sein. In deinem Inneren. Deinem Unterbewusstsein. In deinem Kopf, okay?" Jetzt lächle ich wieder. Sie lässt mich nicht alleine. Das sind beruhigende Worte. „Okay", sage ich glücklich.
Der Raum löst sich auf.

Ja... damals, als du mir diese Worte gesagt hast, war ich froh. Wirklich froh darüber, dass du mich niemals alleine lassen würdest. Es war beruhigend für mich dies zu hören. Heute wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass du endlich von mir ablässt und aus meinem Kopf verschwindest. Einfach, dass du gehst.

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now