Der Termin

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„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?"
„Ja hallo, ich äh habe einen Termin bei Frau Doktor Hartmann für heute ausgemacht."
„Okay, Name?"
„Peinike, Marlene."
„Ah, ich sehe, 16:30 Uhr. Gut, dann setzen Sie sich bitte, Sie werden dann gleich aufgerufen."

„Frau Peinike!"
„Ja, ich komme."
„Hallo, ein schönes neues Jahr wünsche ich Ihnen, ich bin Frau Doktor Hartmann, Kinder und Jugendpsychologin, Sie hatten telefonisch einen Termin ausgemacht. Worum geht es denn? Warum sind Sie heute hier?"
„Äh, also..."
„Setzen Sie sich doch."
„Es ist wegen meiner Tochter, Sahra. Ich mache mir Sorgen um sie."
„Wie alt ist Ihre Tochter denn?"
„Sechzehn."
„Okay und weswegen machen Sie sich Sorgen?"
„Sie, also... sie nimmt ab. Und sie isst auch kaum noch etwas, zumindest sehe ich sie nur noch sehr selten etwas essen. Sie sagt zwar sie esse, aber wirklich glauben kann ich ihr das nicht."
„Aha okay. Seit wann ist das denn so?"
„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Also das erste Mal richtig aufgefallen ist es mir vor so ungefähr drei bis vier Wochen. Da war eine Freundin von mir zu Gast und sie hat das direkt angesprochen. Erst da hab ich es dann auch wirklich bemerkt, aber eigentlich hat sie schon vor Monaten angefangen sich anders zu benehmen."
„Was heißt „anders"? Hat sich ihre Stimmung verändert? Oder vielleicht ihr Essverhalten?"
„Beides. Es hat damit angefangen, dass sie zum Frühstück keine Nutella mehr essen wollte. Dann nach einiger Zeit hat sie morgens nur noch Obst gegessen. Da wollte ich dann, dass sie etwas zu Essen mit in die Schule nimmt, das hat sie zuvor nämlich nie gemacht, und das hat sie dann auch immer gegessen. Also dachte ich... mittlerweile glaube ich, dass dem nicht so ist."
„Okay. Und Stimmungsschwankungen? Sie meinten ihre Tochter hatte beides."
„Ja. In letzter Zeit hat sie immer sehr abweisend, sogar zornig darauf reagiert, wenn ich ihr etwas zu Essen angeboten habe. Sie wird dann sehr laut, schreit teilweise rum und blickt mich auch immer sehr wütend an. Selbst wenn ich nur frage, ob sie etwas gegessen hat, ist sie sofort total genervt. Und auch insgesamt scheint sie gereizter zu sein. Zumindest macht das auf mich den Eindruck."
„Mhm. Also Sahra - ich darf doch Sahra sagen?"
„Ja, natürlich."
„Also Sahra reagiert gereizt auf das Thema Essen. Was isst sie denn so? Also was bekommen Sie mit, was sie so isst?"
„Naja morgens ist das normalerweise Obst."
„Was für Obst?"
„Unterschiedlich. Das, was wir gerade da haben. Äpfel, Bananen, Birnen, Kiwis, Mandarinen, so etwas in der Richtung."
„Okay und was noch?"
„Also mit in die Schule nimmt sie meistens Toast oder Brötchen mit Marmelade oder Nutella oder belegte Brote mit Wurst, Käse und ähnlichem. Dazu dann noch mal etwas Obst oder Gemüse, geschnittener Apfel oder ein Stück Gurke zum Beispiel und dann noch etwas Süßes. In den letzten Wochen vor allem Lebkuchen und Plätzchen."
„Aber Sie glauben nicht, dass Sahra das auch wirklich isst?"
„Nein. Also ihre Brotdose ist zwar leer am Nachmittag, aber sie wird ja immer dünner, deswegen glaube ich es ehrlich gesagt nicht."
„Okay und nachmittags? Was isst sie nachmittags?"
„Das weiß ich nicht. In letzter Zeit ist sie am Nachmittag nach der Schule ständig außer Haus und kommt erst abends wieder. Sie sagt, sie sei in der Stadt gewesen und habe dort schon etwas gegessen. Sie sei bei Nordsee, McDonalds, beim Chinesen oder sonst wo gewesen. Ich will sie zwar dann noch zum Abendbrot essen kriegen, aber wenn ich dann in ihr Zimmer komme schläft sie meist schon."
„Aha okay. Haben Sie vielleicht einmal oder auch mehrmals mitbekommen, dass Sahra plötzlich Unmengen an Essen konsumiert hat und sich dabei nicht stoppen konnte?"
„Äh naja... ja also es gab da mal so eine Situation, da bin ich zu ihr ins Zimmer gegangen und ich hab sie am Boden vorgefunden, komplett umringt mit all ihren Süßigkeiten. Das meiste waren nur noch leere Verpackungen und sie schien ziemlich erschrocken zu sein, als ich rein gekommen bin. Ich dachte sie hätte vielleicht ihre Periode und daher einen plötzlichen Heißhunger auf Schokolade, aber das ist für sie sehr untypisch. So etwas kommt bei ihr sonst wirklich nie vor."
„Und Sie denken, dass Sahra diese ganzen Süßigkeiten gegessen hat?"
„Ja, ich glaube schon."
„Okay. Wissen Sie vielleicht etwas davon, ob Sahra sich danach übergeben hat?"
„Übergeben?! Sie... Sie denken Sahra hat sich übergeben?!"
„Das weiß ich nicht, deswegen frage ich Sie, ob Sie davon etwas mitbekommen haben."
„Ich... ich weiß es nicht. Ich bin danach weg gegangen und habe mich mit ein paar Freunden getroffen. Oh Gott Sahra, meine kleine Maus..."
„Nicht gleich das Schlimmste vermuten. Hier, ein paar Taschentücher. Ich gehe nicht davon aus, aber es wäre definitiv im Bereich des Möglichen. Hat Sahra vielleicht andere Sachen gemacht? Viel Sport getrieben, sich viel bewegt oder so? Nicht nach diesem Vorfall, das können Sie ja nicht wissen, wenn Sie nicht da waren, sondern insgesamt. Haben Sie mitbekommen, ob Sahra vielleicht Sport macht?"
„Also naja, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube tatsächlich schon. Einmal zumindest bin ich in ihr Zimmer gegangen und da war sie gerade dabei gewesen Sit Ups oder etwas in der Richtung zu machen. Sie lag auf jeden Fall in Sportklamotten auf ihrer Couch und sah auch etwas verschwitzt aus. Sie schien ziemlich erschrocken zu sein, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt, aber dann hat sie mir gesagt sie übe für den Sportunterricht. Und auch sonst, wenn ich an ihrem Zimmer vorbeigehe und naja, lausche, höre ich sie manchmal springen und schwer atmen. Außerdem sind jetzt auch viel öfters Sportsachen von ihr in der Wäsche. Also zumindest öfters als früher."
„Okay, Sport also. Und wissen Sie ob Sahra vielleicht Kalorien zählt? Hat sie zum Beispiel mal so etwas gesagt wie: „Nein das esse ich nicht, da sind mir zu viele Kalorien drin" oder so?"
„Nein also, ich glaube nicht. Ich- ich weiß es nicht."
„Okay. Dann etwas anderes: hat Sahra sich des öfteren gewogen? Ist Ihnen in der Richtung etwas aufgefallen?"
„Ja! Das war- also einmal, da bin ich ins Badezimmer gegangen, ich wusste nicht, dass Sahra noch drin war, und da stand sie in Unterwäsche auf der Waage. Danach hat sie gesagt, als ich sie darauf angesprochen habe, es sei für eine Biologie Hausaufgabe gewesen. Sie hätten ihren BMI ausrechnen müssen. Und dann noch einmal, einige Zeit später, da habe ich die Waage, nachdem Sahra sich auf den Weg zur Schule gemacht hat, mitten im Badezimmer auf dem Boden stehend vorgefunden. Ich habe mich nicht gewogen, also kann es nur Sahra gewesen sein. Als ich sie am Nachmittag damit konfrontiert habe sagte sie, sie hatte sich gewogen, weil sie ihren BMI noch mal ausrechnen wollte. Nicht für die Schule, sondern aus Eigeninteresse."
„Okay gut. Und kennen Sie womöglich das derzeitige Gewicht von ihr? Haben Sie mal danach gefragt und hat sie es Ihnen verraten? Oder hat sie Ihnen sogar ihren BMI gesagt, als sie ihn erneut ausgerechnet hat?"
„Ja, ja das hat sie. Ich glaube es waren Neunzehn oder etwas in der Nähe und wenn ich mich recht erinnere hatte sie ein Gewicht von Achtundvierzig oder Neunundvierzig Kilogramm genannt. Aber irgendwie..."
„Irgendwie glauben Sie nicht, dass das der Wahrheit entsprach?"
„Nein..."
„Wie groß ist Sahra denn?"
„Sie müsste 1,60 m sein."
„Okay, dann, lassen Sie mich kurz nachgucken... dann würde der BMI schon einmal stimmen, wenn es denn die richtigen Daten sind. Was würden Sie denn schätzen, wie viel Sahra wiegt?"
„Oh, äh, keine Ahnung. Ich äh, ich weiß wirklich nicht."
„Aber Sie denken, es ist weniger als Achtundvierzig?"
„Ich glaube schon..."
„Eher Fünfundvierzig oder noch weniger?"
„Tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Ahnung. Vielleicht... ich weiß es nicht... weniger?"
„Okay. Mal angenommen es wären Fünfundvierzig Kilogramm, dann wäre sie bereits einen Kilo im Untergewicht. Das ist erst mal nichts schlimmes, es gibt viele Menschen, die ein wenig im Untergewicht sind, bei denen aber körperlich alles fit ist, aber wenn es noch weniger ist kann es zu gesundheitsschädigenden Folgen kommen. Haben Sie vielleicht ein aktuelles Bild von ihr? Eines worauf man ihren Körper gut erkennen kann?"
„Nein, leider nicht. In den letzten Monaten habe ich keine Fotos von ihr gemacht. Ich hatte auch nie einen Grund dazu."
„Das ist nicht schlimm. Es würde mir allerdings helfen, wenn ich sie mal sehen und auch mit ihr sprechen könnte. Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Denken Sie, sie würde zu einem Termin mit hierher kommen?"
„Ich... ich glaube das würde schwierig werden. Ich denke eher nicht."
„Hm, okay. Ist es vielleicht irgendwie möglich ihr derzeitiges Gewicht in Erfahrung zu bringen? Ihr richtiges. Ich möchte ihr nicht unterstellen, dass sie gelogen hat, aber ausschließen kann man es nicht. Führt Sahra vielleicht Buch über ihr Gewicht? Hat sie ein Tagebuch in das sie das reinschreiben könnte?"
„Also von einem Tagebuch wüsste ich jetzt nichts. Aber... aber ich glaube man kann sich auf unserer Waage anzeigen lassen, was das zuletzt gewogene Gewicht war. Ich glaube dafür hat unsere Waage einen Knopf."
„Wenn dem so ist und Sie das Gewicht dadurch herausfinden, dann machen sie bitte noch einen Termin bei mir aus. Vielleicht schaffen Sie es sogar Sahra zu einem Foto zu überreden."
„Okay... und ähm... könnte es sein, dass sie..."
„Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Einige Anzeichen sind vorhanden, aber ich möchte wie gesagt nicht voreilig urteilen, dafür ist es noch viel zu früh."
„Okay."
„Gut. Haben Sie sonst noch etwas, über das Sie mit mir reden möchten?"
„Nein. Das war es eigentlich. Ich mache mir einfach Sorgen."
„Das ist vollkommen verständlich und uns liegt es jetzt erst einmal daran zu überprüfen, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sollte Sahras Gewicht wirklich zu niedrig sein müssen wir über einen Klinikaufenthalt sprechen, zu ihrer eigenen Sicherheit."
„Ist das wirklich notwendig? Ich meine..."
„Das gilt es jetzt herauszufinden. Starkes Untergewicht hat viele negative Auswirkungen auf den Körper und es ist sehr wichtig diesen möglichst rasch vorzubeugen. Ihrer Gesundheit wegen. Es könnte sonst zu Organversagen kommen und schlimmsten Falls zum Herzstillstand."
„Wirklich?! Oh mein, oh Gott, das kann doch nicht..."
„Bitte regen Sie sich nicht auf. Es ist noch zu früh gleich den Teufel an die Wand zu malen. Wie gesagt, erst versuchen Sie ihr Gewicht in Erfahrung zu bringen, danach sehen wir weiter. Sie möchten doch mit Sicherheit verhindern, dass Sahra etwas durch die Folgen zustößt."
„Natürlich!"
„Gut. Also, ist ihr Gewicht zu niedrig bringen Sie Sahra bitte umgehend zu einem Arzt, damit dieser feststellen kann, wie es um ihre Gesundheit steht, ja?"
„Okay. Ähm, bei welchem Gewicht wäre es denn kritisch? Wie viel müsste sie wiegen um in eine Klinik zu müssen?"
„Normalerweise folgt eine direkte Einweisung bei einem BMI von unter Sechzehn. Das wären bei Sahra, lassen sie mich gucken... sobald sie weniger als Einundvierzig Kilogramm wiegt. Natürlich kann man nicht alles vom BMI Wert abhängig machen, auch die Körperform spielt dabei eine wichtige Rolle, aber bei so starkem Untergewicht muss man definitiv handeln."
„Okay."
„Gut. Dann lassen Sie sich einen neuen Termin geben, wo wir alles weitere besprechen. Sollte Sahras Gewicht wirklich schon so niedrig sein, dann bringen Sie sie direkt zu einem Arzt und rufen Sie hier an. Ich werde dann versuchen Sie so schnell wie möglich dranzunehmen, da es sich dann um einen akuten Fall handelt, der sofortiger Hilfe bedarf."
„Okay, ja. Vielen Dank."
„Sehr gerne doch. Auf Wiedersehen."
„Auf Wiedersehen und einen schönen Tag Ihnen noch."

Einmal Ana, immer Ana.Where stories live. Discover now