10.Kapitel

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Neugierig betrachtete ich die große, alte Scheune, vor der wir gehalten hatten. Das Tor stand weit offen und aus dem Inneren konnte ich den Lärm vieler Menschen hören. Überall am Straßenrand und auf der großen Wiese vor der Scheune standen Autos. So wie es aussah, war das Konzert ziemlich gut besucht.

Zum Aussteigen hielt Nils mir wieder mit seinem charmanten Lächeln die Tür auf, mit vor Aufregung klopfendem Herzen stieg ich aus und er schlug die Tür hinter mir zu.

>>Komm, wir sind schon spät dran.<< Er nahm meine Hand und zog mich mit sich. Ich stolperte ihm hinterher und unterdrückte das Bedürfnis, vor Freude auf und ab zu hopsen. Hielten wir gerade etwa Händchen? Empfand er vielleicht wirklich mehr als nur Freundschaft für mich? Würde heute der Tag sein, an dem mein Traum in Erfüllung ging?

>>Hast du deine Eintrittskarte?<<, fragte Nils mich, als wir im Eingang der Scheune vor einem langen Tisch stehen blieben, auf dem ein Schild mit der Aufschrift Eintrittskarten bitte hier vorzeigen stand. Der Mann hinter dem Tisch sah uns erwartungsvoll an.

>>Welche Eintrittskarte?<< Verständnislos schaute ich zu Nils.

>>Hab ich dir die am Donnerstag nicht gegeben?<<

Ich zuckte mit den Schultern. >>Nicht das ich wüsste.<<

>>Die Eintrittskarten bitte<<, verlangte der Mann und tippte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischoberfläche. Nils holte eine Karte hervor und legte sie auf den Tisch, der Mann prüfte sie und riss sie dann durch. >>Und was ist mit dem Mädchen?<<

>>Die hat ihre Karte vergessen.<<, sagte Nils vorsichtig.

>>Du hast sie vergessen!<<, wiedersprach ich, >>Du hast sie mir schließlich nicht einmal gegeben!<<

>>Ja, ja<< Nils verdrehte die Augen und wandte sich an den Mann hinter dem Tisch. >>Kann sie nicht einfach trotzdem mit hinein? Eigentlich hat sie doch eine Karte.<<

>>Das kann ja jeder sagen.<< Genervt beugte sich der Mann zu uns vor. >>Außerdem haben wir keine Plätze für zusätzliche Gäste frei.<<

>>Dann sitzt sie halt auf meinem Schoß.<<, schlug Nils vor und zwinkerte mir zu. >>Oder sie kann auch stehen.<<

>>Dann sitze ich lieber auf deinem Schoß.<<, sagte ich schnell und konnte nicht verhindern, dass mir beim Gedanken daran, auf Nils Schoß zu sitzen, ein strahlendes Lächeln übers Gesicht huschte.

Nils kramte in seiner Hosentasche und legte einen Zehner auf den Tisch. >>Lassen Sie uns jetzt herein?<< Er klang schon richtig genervt.

>>Ja, ja...<< Der Mann winkte uns gähnend durch. >>Aber haltet mich nicht weiter auf! Und nimm das Mädchen gefälligst auf den Schoß, damit sie keinen anderen Gästen den Platz wegnimmt.<<

Nils zog mich ins Innere der Scheune, wo überall Bänke, Stühle und vereinzelt auch Tische standen. Auf der Bühne befand sich nur ein großer schwarzer Flügel, an dem ein älterer Herr im Anzug und mit Hut saß. Wir setzten uns in die erste Reihe, in der nur noch ein Platz am Rand frei war, sodass Nils mich tatsächlich auf den Schoß nehmen musste.

>>Sitzen Sie bequem, Fräulein Dolin?<<, flüsterte Nils in mein Ohr und ich nickte lächelnd.

>>Alles bestens, Herr Körner! Sie haben sehr gemütliche Oberschenkel.<<

Schnaubend beugte Nils sich wieder zurück.

Wenige Minuten später ging das Licht aus, es wurde still in der Scheune und ein einzelner Strahler beleuchtete nur den Flügel auf der Bühne. Der ältere Herr – Nils ehemaliger Klavierlehrer – sagte ein paar Begrüßungsworte und begann dann zu spielen. Er spielte gut, das musste man ihm lassen, dennoch konnte ich mich kaum auf ihn konzentrieren. Ich konnte nur an Nils denken, auf dessen Schoß ich saß. Er hatte die Arme um mich geschlungen und beugte sich hin und wieder mal zu mir vor, um mir etwas über seinen Lehrer ins Ohr zu flüstern. Eine Anmerkung über seine Technik, über seine Fingerfertigkeit, über seine Bewegung... Immer wenn er mir etwas zuflüsterte, spürte ich seinen warmen, kitzelnden Atem an meinem Ohr. Es war fast unmöglich, still auf seinem Schoß sitzen zu bleiben, während mein Herz wie verrückt klopfte und ich vor Glück am liebsten getanzt, gelacht und geschrien hätte. Die wunderschöne Klaviermusik und Nils Kommentare nahm ich kaum wahr, all die Gedanken und Gefühle in meinem Kopf bildeten ein so großes Chaos, das man sich auf gar nichts konzentrieren konnte.

Der KlavierlehrerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt