Kapitel 2

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"Wieder einen Albtraum gehabt?", hörte ich eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit heraus fragen. Ich vergaß jedes Mal, dass doch nicht jeder in diesem Haus schlief.
Cale schlief vielleicht einmal in der Woche, wenn er sich zu sehr verausgabt hatte. Manchmal wünschte ich mir auch ein Vampir zu sein. Dann hätte ich diese verdammten Albträume wenigstens nicht mehr. Sondern nur noch die verdrängten Erinnerungen an... diesen einen Tag.
"Vergiss es Shaye - diesen Gefallen zu ich dir nicht.", kam es von ihm und er trat aus dem Schutz der Dunkelheit vor mich. Er hielt frische Kleidung in den Händen und reichte sie mir.
"Danke." Ich nahm die Sachen entgegen und drehte mich wieder zum Badezimmer. "Und hör auf ständig meine Gedanken zu lesen. Das nervt." Ich schloss die Tür erneut hinter mir und zog mich um. Seit Jahren lief es zwischen uns so ab. Ich wachte mitten in der Nacht auf und ging Duschen und Cale wartete mit frischer Kleidung bis ich fertig war. An manchen Tagen brauchte ich länger um einen Albtraum zu verkraften und manchmal brauchte es weniger Zeit. Aber Cale war immer da, wenn ich fertig war. Am Anfang war es merkwürdig gewesen, doch jetzt war ich sehr froh über seine Hilfe. Er tat es nicht aus Mitleid, sondern weil er wusste, was diese Albträume bedeuteten und mit mir anrichteten. Er hatte mir ein schwarzes Tshirt gegeben, was mir gefühlt zwei Nummern zu groß war. Ich steckte den unteren Bund in die dunkelgraue Stoffhose und krempelte die Hosenbeine unten zweimal um. Meine Haare trocknete ich dann doch noch einmal kurz mit dem Handtuch ab, bevor ich es zum Trocknen über den petrolfarbenen Heizkörper hing.

Ich trat aus dem Badezimmer heraus und sah, dass in der Küche Licht brannte. Cale saß mit zwei dampfenden Tassen an dem alten Holztisch in der Mitte des Raumes. Von den Stühlen blätterte leicht die pastellgrüne Farbe ab. Mir gefiel dieser Vintage Look irgendwie. Allgemein war es seit langer Zeit wieder ein Haus, das mir gefiel. Es strahlte Wärme aus. Ich fing auch irgendwie an mich hier wie zu Hause zu fühlen, doch mir war klar, dass ich das besser nicht sollte. Früher oder später müsste ich zusammen mit den anderen wieder meine Taschen packen und im Schutze der Nacht verschwinden. Ich zog den Stuhl zurück und ließ mich nieder. Ich zog die Beine an meine Brust und griff nach der dampfenden Tasse. Kaffee. Ich nahm den Duft des frischen Kaffees in mich auf. Ich sah wie Cale seine Tasse wieder auf dem Tisch abstellte und das Buch, das vor ihm au dem Tisch lag, aufschlug. Es war alt und schon etwas vergilbt. Der schwarze Einband war abgegriffen und einige der Seiten schienen etwas lose. Ich brauchte den in weißen Lettern geschriebenen Titel nicht zu sehen, um zu wissen, was Cale laß. To Kill a Mockingbird war eines seiner liebsten Bücher. Er hatte es anscheinend erst wieder angefangen.

"Willst du darüber reden?", fragte Cale plötzich. Ich erwischte mich dabei, wie ich auf das Buch gestarrt hatte. Ich blinzelte und sah ihn an, nur um zusehen, dass er seinen Blick weiterhin auf die Worte auf den Seiten gerichtet hatte. Er trug seine Brille was ihn etwas weniger bedrohlich aussehen ließ. Seine kantigen Züge ließen ihn immer so ernst wirken und dazu dieser dauerhafte sprich-mich-nicht-an-Ausdruck auf seinem Gesicht, führten zu dieser bedrohlichen Ausstrahlung. Und das Septum, was er sich vor einem Jahr hatte stechen lassen, machte diesen Gesamteindruck komplett. Trotzdem war Cale mehr als bewusst, wie er aussah und das wusste er zu nutzen.

"Nein.", antwortete ich knapp und nahm einen Schluck von dem Kaffee. Ich verzog leicht das Gesicht und stand sofort auf um Milch und zu holen. Ich hatte kein Problem damit Kaffee schwarz zu trinken, aber der war dieses Mal wirklich zu stark. Ich sah zu wie die Milch den Kaffee cremiger machte und nahm anschließend wieder einen Schluck. Besser.
"Shaye, du weißt, dass du irgendwann darüber reden musst."
"Glaub mir, dass ist mir bewusst.", gab ich zurück und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. "Aber ich bezweifle, dass du derjenige bist, mit ich darüber reden sollte." Er sah mich für eine Sekunde an bis er nickte und sich wieder seinem Buch widmete. Cale war gefühlt die Unbekümmertheit in Person. Er machte sich um nichts Gedanken oder Sorgen und andere Wesen oder Menschen interessierten ihn nur in bestimmten Ausnahmefällen. Die meisten machten einen Bogen um ihn und diejenigen, die sich trotzdem von ihm angezogen fühlten, fanden schnell den Weg ganz weit weg. Trotzdem war ich die wohl einzige Person, um die sich Cale Gedanken macht. Auch wenn er es nie zugeben würde - es zeigt sich in seiner Art, wie er sich um mich kümmerte. Ob es auch nur seine stille Anwesenheit war oder ein besorgter kurzer Blick machte nichts, aber ich verstand es.

"Also entweder sagst du mir was los ist, oder du hörst auf mich so anzustarren.", gab er etwas genervt von sich. Ich atmete tief ein bevor ich mit der Tasse Kaffee aufstand und mich auf den Weg ins Wohnzimmer machte.
"Keine Mühe Cale, mir ist nicht nach reden.", ich lehnte die Küchentür nur leicht an anstatt sie zu schließen. Die Tür durch die ich dieses Mal gegangen war, führte direkt in das Wohnzimmer. Ich stellte die Tasse auf den kleinen Couchtisch ab und zog die Vorhänge etwas zurück, bevor ich die Kerzen auf dem Tisch anzündete und mich im Schneidersitz auf dem großen Samtsofa nieder ließ. Ich schloss meine Augen und atmete den Duft der Kerzen ein. Eine Mischung aus Lavendel und Flieder. Lavendel war bekannt für seine beruhigende Wirkung und viele Nutzten Lavendelöle bevor sie schlafen gingen. Ich bevorzugte Lavendelkerzen während ich meditierte anstatt Öle. Ich legte meine Arme auf den Knien ab und richtete meine Handflächen nach oben. Ich atmete mehrere Male tief durch ehe ich auch mein Gesicht gen Himmel richtete.
"Mögen mir die Geister meiner Ahnen Kraft senden. In Ruhe sollen sie meine aufgewühlte Seele rein waschen. Mögen sie die Schatten meiner Vergangenheit von mir nehmen und mich im Reich des Lichts willkommen heißen.", summte ich. Manche würden es als Gebet bezeichnen, doch es hatte nichts mit einem religiösen Glauben zu tun. Ich schöpfte Kraft aus der Energie des Allgegenwärtigen. Der Energie, die mir meine Fähigkeiten, meine Magie verlieh und in jedem Ding und Lebewesen auf dieser Erde innewohnt. Der Energie allen Ursprungs.

Ich spürte wie sich ein warmer Hauch um meinen Körper legte. Wie die Anspannung von mir fiel und sich alles in mir begann zu beruhigen. Meine Gedanken wurden klar und leicht. Ich driftete weg von der kalten und schrecklichen Realität und spürte Geborgenheit. Ich fing an das leise Knistern der Kerzenflammen zu hören. Ich fühlte, wie sie sich leicht zu bewegen begannen. Die Flammen tanzten zu den stummen Lied der Ahnen. Die dunkle Last der Vergangenheit fiel von mir. Befreite mich. Ich gab mich diesen Gefühlen hin und ließ den Geister meiner Ahnen freien Lauf. Die Magie in meinem Blut drängte sich nach außen. Umhüllte mich. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln und meine Handflächen wurden warm. Nach einiger Zeit verebbten diese Gefühle. Ich wusste, dass sich die Geister zurückzogen. Sofort fühlte ich mich leer. Als ob mir wieder etwas fehlte. Ich öffnete die Augen und sah, dass die Flammen der Kerzen ein letztes Mal stark loderten, bevor auch sie wieder still wurden. Ich ließ mich mit einem Seufzen zurückfallen und starrte auf meine Handflächen. Dieses warme, einhüllende Gefühl schwand und wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich meine Magie nie mehr als zur Meditation einsetzen konnte. Die Rune auf meinem Rücken verhinderte es. Ich schluckte. Magie war ein Teil von und ich durfte sie nicht nutzen. Nicht ohne mich und die anderen in Gefahr zu bringen. Ich atmete tief durch und schluckte den aufsteigenden Kloß in meinem Hals herunter. Wenigstens musste ich so nicht ganz auf die Magie verzichten.

Dark Blood - Band 1 (Pausiert)Where stories live. Discover now