Das erste Mal außerhalb der Mauern

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Ich hatte durchgesetzt, dass jeder Soldat an seinem Pferd das mindeste an medizinischer Notversorgung dabei hatte. Verbände anlegen sollte für niemanden ein Problem sein. Ausgerüstet mit meinem Messer unter meiner Jacke und natürlich der standard Soldatenausrüstung machte ich mich auf den Weg zum Versorgungswagen. Levi hatte Recht, mit der Verteilung der Materialien auf die einzelnen Soldaten blieb für den Hauptwagen so gut wie nichts mehr übrig. Ich konnte meine Grundausrüstung mitnehmen, von der ich hoffte, dass ich sie möglichst wenig nutzen müsste aber meine Ration Verbandszeug lies ich weg. Andere würden es sicher mehr brauchen. Ebenso hoffte ich, dass ich meinem Dolch, dessen Gewicht ich heute deutlich an meiner Seite spürte, nicht benutzen müsste.
„Doktor King, ist das alles was auf den Wagen kommt?", fragte mich einer der Soldaten, die in meiner Gruppe reiten würden.
„Ja, so haben wir mehr Platz für Verletzte." So kann man es natürlich auch sehen, dachte ich mir. Hoffentlich beunruhigte das die Soldaten nicht.
Als wir zur gesamten Expeditionstruppe dazu stießen, sah ich allerdings in ihren Gesichtern, dass sie nicht Angst vor medizinischer Unterversorgung hatten, sondern vor den Titanen. Vor dem, was draußen auf sie warten würde. Die meisten waren schon öfter vor den Mauern gewesen und hatten dem Schrecken in die Augen geblickt. Ich selbst kam mir wie betäubt vor, ich spürte nichts. Ich war voll fokussiert auf meine Aufgabe.
„Hey, so läufst du nicht rum", hörte ich Levi zu irgendwem sagen.
„Hörst du nicht zu, sieh deinen Vorgesetzten wenigstens an, oder hast du jetzt schon Schiss?" Achso er redete mit mir! Ich blickte in seine traurigen Augen und spürte das irgendwas gegen meinen Bauch drückte. Levi hatte mir den grünen Umhang des Aufklärungstrupps entgegen gedrückt.
„Jetzt nimm schon"
„Oh danke. Und nein, ich habe keine Angst. Ich bin nur... konzentriert."
„Tch, das solltest du auch sein", plötzlich zog er mich an meinem Arm und schleifte mich nochmal in einen der leeren Pferdeställe, so dass uns niemand sah.
„Und wehe du stirbst! Ich will nicht, dass das eine einmalige Sache bleibt. Hast du gehört!"
Mit diesen Worten küsste er mich leidenschaftlich und sanft zugleich. Etwas von der Situation überfordert, blieb ich fast wie versteinert. Nur den Kuss konnte ich erwidern aber meine Hände blieben bei mir. Normalerweise hätte ich liebend gern seinen starken Körper umschlungen und ihm genauso gezeigt, dass ich mir wünschte, es nicht bei diesem einen Mal zu belassen.

Alle waren bereit, wir saßen auf den Pferden und standen vor den Toren. Levi mit Kommandant Erwin ganz vorne. Auch Petra und Mike waren dabei und ein paar neue Gesichter. Diese Expedition sollte hauptsächlich dazu genutzt werden, die Route weiter zu erforschen, die ins Land hinaus führt. Wir waren in Gruppen eingeteilt und wurden angehalten uns mit Farbraketen zu verständigen. Soweit so gut. Meine Aufgabe war es, mit dem Versorgungstrupp vor allem auf Hilfssignale zu achten. Ich hoffte, dass wir so so vielen wie möglich helfen konnten, doch innerlich war ich darauf gefasst, viele Tote auf dem Wagen mit nach Hause zu bringen und ihren Angehörigen die traurige Nachricht zu überbringen, denn auch das war meine Aufgabe.
Die Geräusche des Tors rissen mich aus meinen Gedanken, es wurde langsame geöffnet. Da sah ich, dass Levi sich kurz nochmal umdrehte und mir einen Blick zuwarf. Es war nur sehr kurz aber meine Gruppe hatte es bemerkt, denn ich bekam zwei fragende Blicke von der Seite. Ich ignorierte sie einfach.
Erwin brüllte los und verkündete den Beginn der Expedition. Die Pferde rannten und sofort teilten wir uns in unsere Gruppen auf. Ich sah sie in die verschiedenen Richtungen sprinten, ich blieb mit meinen Kameraden auf unserer vorgegeben Route. Kurz drehte ich mich um und sah, wie die Mauern immer weiter hinter uns lagen. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Ich war draußen, vor den Mauern! Dieses Gebiet auf dem wir ritten, kannte ich nur von der Aussicht auf der Mauer. Doch je länger wir ritten, umso unbekannter wurde mir das Gebiet, nun war es wirklich neu für mich.
„Doktor! Dort vorne rechts!", machte mich einer meiner Begleiter nach einiger Zeit aufmerksam. Ein Hilfssignal erschien am Himmel.
„Ihr wisst was zu tun ist!" schrie ich und wir lenkten unsere Pferde in Richtung des Signals.
Wir fanden eine andere Dreiergruppe vor. Zwei Soldaten standen vor einer Soldatin, die am Boden lag.
Sofort sprang ich vom Pferd ab und rannte zur Patientin.
„Titanen? Was ist passiert", fragte ich sichtlich irritiert, denn ich sah keinerlei äußerliche Verletzungsspuren noch Spuren eines Titanenkampfes.
„Sie ist einfach vom Pferd gefallen! Einen Titan haben wir schon erledigt, der liegt weit hinter uns."
„Ihr beide steigt wieder auf eure Pferde und folgt eurer zugewiesenen Position! Wir kümmern uns um die Soldatin"
„Kadett!"
„Wie bitte?"
„Sie ist noch Kadett, Doktor"
„Ich verstehe, danke. Und jetzt reitet weiter, wir machen das hier." Geschwind stiegen sie auf ihre Pferde und waren wieder weg.
Ich wendete mich der Patienten zu. Sie hatte einen schwachen Puls. So wie es mir schien, war sie schlichtweg ohnmächtig geworden.
„Kadett! Kadett hören sie mich?" Ich schüttete ihr etwas Wasser ins Gesicht.
„Was? Was ist passiert", sie wachte auf und hatte eine schwache Stimme.
„Können Sie aufstehen?" Sie war noch immer etwas benommen.
„Kadett, haben sie heute schon etwas gegessen?"
„Nein, ich war einfach zu aufgeregt... aber, aber was ist denn passiert?"
„Sie sind ohnmächtig geworden. Wenn es ein nächstes Mal für Sie vor den Mauern gibt, frühstücken Sie gefälligst. Sie bringen all Ihre Kameraden damit unnötig in Gefahr!", ich war angepisst. Doch die Standpauke wirkte, sie stand schon wieder auf den Beinen.
„Sie werden vorerst auf dem Wagen mitfahren. Sie hätten sich durchaus verletzen können, bei einem Sturz vom Pferd."
„Doktor ich fühle mich wieder gut ich kann-"
„Nichts da! Auf den Wagen, los!" Denn ich sah schon den nächsten Notruf.
Der Schauplatz an den wir diesmal kamen, war ernst zu nehmen. Eine Gruppe kämpfte an einem Titanen. Ich hatte noch nie einen von so nah gesehen. Bei dem Angriff vor zwei Jahren waren sie immer weiter entfernt gewesen. Auf einmal verstand ich die Faszination, die Hanji bei diesen Wesen verspürte. Doch gleichzeitig war ich entsetzt, sie waren gigantisch und furchteinflößend. Zwei Soldaten flogen um den Titanen herum und versuchten immer wieder ihn zu erledigen. Ich fragte mich noch was das für ein medizinischer Notfall wäre, als ich den Verletzen nur ein paar Meter weiter liegen sah. Ich wies meine Begleiter an, den zwei Kämpfern zu helfen, bevor ich zu meinem Patienten eilte. Doch es war zu spät. Es war kein Puls zu spüren, er atmete nicht mehr. Ich wollte seine Augen schließen und hob seinen Kopf etwas an. Meine Finger spürten seine Gehirnmasse.
„Wenigstens ging es schnell. Du hast tapfer gekämpft", sagte ich zu ihm und schloss seine Augen.
Ein Schrei riss mich von dem Toten weg. Einer der Soldaten befand sich in der Hand des Titanen. Er wurde vor meinen Augen gefressen. Es waren Schreie der Todesangst, ich fühlte mich sofort zurück versetzt an diesen schrecklichen Tag von damals. Ich atmete schneller, bekam ich etwa eine Panikattacke? Nein... nein... NEIN! Ich werde diesmal nicht weglaufen! Ich bin hier, um zu helfen! Ich bin hier, um von Nutzen zu sein!

Der Corporal und die Ärztin 🍋Where stories live. Discover now