Kapitel 7

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Es ist bestimmt schon eine halbe Stunde her, dass Al das Lager verlassen hat. Mir ist nicht entgangen, dass Tajus Anspannung, mit jeder Minute, die wir uns unterhalten haben, weiter und weiter angestiegen ist. „Was glaubst du? Ob er sie schon gefunden hat?", frage ich unsicher. Taju atmet einmal laut ein und aus. „Ich gehe stark davon aus. Al weiß am besten, welche Lunas Lieblingsplätze sind." Taju dreht sich zu mir um und mustert meine, vom Training verschwitzte, Kleidung. „Du solltest dich vielleicht etwas ausruhen. Ich habe vorhin gesehen, wie du mit Jean trainiert hast. Du bist sicher erschöpft. Habe ich Recht?" Warum wechselt er so plötzlich das Thema? "Nein ist schon gut.", sage ich, doch erst jetzt merke ich, wie schwer sich mein Körper eigentlich anfühlt und wie sehr mir meine Arme und Beine weh tun. Taju zieht zweifelnd eine Augenbraue hoch. "Du musst mir nichts vormachen. Ich weiß gut, wie hart die Kleinen trainieren, damit Al ihr Können anerkennt. Geh dich ausruhen. Du hattest einen langen Tag." „Ja, da hast du Recht. Ich werde mich etwas hinlegen.", sage ich. Doch Taju hat sich bereits wieder abgewendet. So mache ich mich ohne weiteres auf den Weg zu meinem Zelt.

Ich spüre Daisys stechenden Blick als ich die Treppen hinuntersteige. Sie steht weiter oben und mustert mich feindselig. Ein Blick voller Hass. Wenn Blicke töten könnten, denke ich und setze meinen Weg fort. Was ist nur ihr Problem?

Angekommen in meinem Zelt, lasse ich mich erschöpft auf das alte Feldbett fallen. Nie hätte ich gedacht, dass ein Bett so schön sein kann. Ich packe das Kopfkissen und möchte dieses gerade aufschütteln, als ein altes zerknittertes Foto aus dem Bezug fällt. Ich hebe es vorsichtig auf und betrachte es nachdenklich. Darauf ist ein junges Paar zu sehen. Dem Hintergrund nach zu urteilen, muss dieses Foto bereits hier in der Kanalisation aufgenommen worden sein, da man im Hintergrund abzweigende Tunnel und Zelte erkennen kann. Das Paar liegt sich in den Armen und lächelt überglücklich in die Kamera. Der Mann hat sehr helle Haare, die zu einem Dutt nach hinten gebunden sind und trägt einen van–Dyck–Bart. Ich erstarre, als ich das Mädchen betrachte. Ist das nicht Daisy? Was hat Daisy mit diesem Mann zu tun? Ich wende das Foto, in der Hoffnung dort einen Namen oder einen Anlass zu finden, lese dort aber nur das Entstehungsjahr des Fotos: 2998. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Taju bei seiner langen Geschichte vorhin einmal erwähnt, das Al vor drei Jahren, im Jahr 298, diese Gruppe hier gegründet hat. Wir haben also jetzt das Jahr 3001. Ich betrachte das Foto weiter. Daisys Haare sind noch ein ganzes Stück kürzer als jetzt. Sie reichen ihr gerade mal bis zum Rücken. Das Foto könnte also gut und gerne drei Jahre alt sein. Ich lege es zurück in den Kissenbezug und versuche noch einmal, die Augen zu zumachen, als von Draußen laute Schreie zu hören sind.

„SCHNELL, RENNT WEG! SIE KOMMEN! DIE O-F-U-A KOMMT HIER HER! LOS! LAUFT SCHNELL WEG!"

Ich erkenne Jeans panische Stimme sofort. Ich springe aus dem Bett und renne zum Zelteingang. Jean rennt an meinem Zelt vorbei, gefolgt von Timo, Konrad und Luki, denen ihre Panik ins Gesicht geschrieben steht. „Renn!" Er packt mich am Arm und zieht mich mit sich. „Dieser Roy ist auf dem Weg hierher und ohne Luna und Al haben wir keine Chance!"

Die Menschen rennen panisch durcheinander. Alle laufen in alle Himmelsrichtungen. "FLÜCHTET IN DIE TUNNEL!", höre ich Mitch rufen, woraufhin sich alle Menschen in die unterschiedlichen Tunnelausgänge auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle drängen. Ich erstarre, als ich hinter uns das einprägsame Lachen vernehme. Ich drehe mich um. Am Haupttunneleingang steht der Officer der O-F-U-A und sieht belustigt dabei zu, wie die Menschen panisch die Flucht ergreifen. Hinter ihm tauchen die restlichen Mitglieder seines Elitetrupps auf. „Sollen wir sie verhaften?", fragt der eine von ihnen, großgewachsen mit einer dunklen Sonnenbrille, die er sich auf die Stirn geschoben hat, Kapuze und einem Scharfschützengewehr über der Schulter. „Nein, wir suchen ihren Anführer und den flüchtigen Error. Für die anderen sind wir nicht zuständig. Sollen sich doch die Bullen darum kümmern." Er betritt langsam die Höhle und sieht sich um. Ich stehe immer noch wie erstarrt vor einem der Fluchttunnel. Jemand packt mich am Arm. Ich drehe mich erschrocken um. Hinter mir steht Al. „Al", sage ich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Erleichterung. Er sieht sichtlich mitgenommen aus. „Los! Komm!", sagt er außer Atem und stützt sich auf seinen Knien ab. „Die hören ... nicht auf dich... zu jagen, wenn sie erstmal eine Spur haben. Glaube mir!"

Wir laufen beide den langen engen Tunnel entlang. Alle anderen sind schon weit außer Hörweite. Hoffentlich haben es alle rechtzeitig rausgeschafft, bete ich. Ich versuche mich nach Al zu richten, um in dem schwachen Licht einzelner kleinen orangenen Kontrolllampen an der Decke, die Orientierung nicht zu verlieren. Doch ich merke schnell, dass etwas mit Al nicht stimmt. Wir werden immer langsamer. Vor uns kann ich wieder Menschen erkennen. Wir haben die Gruppe wieder eingeholt, denke ich erleichtert. Weit kann es nicht mehr sein. Ich weiche den letzten Nachzüglern aus, welche von der Dunkelheit des Tunnelverlaufs verschluckt werden, und lassen mich zu Al zurückfallen, welcher ein paar Meter hinter mir stehengeblieben ist. „Alles ok?", frage ich. Er atmet schwer, lehnt sich schließlich gegen die nächste Mauer und sinkt dort erschöpft zu Boden. „Was hast du denn? Komm, wir müssen weiter!" Ich ziehe an seinem Arm, doch er macht keine Anstalten aufzustehen. Ich sehe mich panisch um. Al stöhnt nur und zwingt sich zu einem Lächeln. „Ach, wenn du wüsstest. Meine Schmerzen willst du gar nicht haben. Es fühlt sich so an, als wäre mein gesamter Körper gelähmt." Seine letzten Worte verstehe ich kaum noch, da seine Stimme immer leiser wird. Er legt seinen Kopf erschöpft an die Wand und schließt die Augen. Ich betrachte ihn besorgt. „Al! HEY Al! KOMM WIR MÜSSEN WEITER!" Doch er rührt sich nicht mehr. Ich gerate in Panik. „AL!" Ich packe ihn an seinem Mantel, nur um ihn sofort erschrocken wieder loszulassen. Ich blicke geschockt meine Hände an.

BLUT, denke ich erstarrt. Ich ziehe Al's Mantel zur Seite und knöpfe die Schutzweste auf, welche in großen Teilen aussieht, als wäre sie angekokelt oder verbrannt worden. Eigentlich sollte diese doch gegen die Waffen der O-F-U-A schützen, denke ich. Was für eine Waffe kann eine Schutzweste so verschmoren. Ich löse den letzten Knopf und ziehe die verkohlten Überreste der Weste vorsichtig von Al's Körper und sehe, dass bereits sein ganzes Shirt mit Blut durchtränkt ist. Ich blicke mich hilflos um. Was soll ich denn bloß machen? Auf einmal höre ich, sich schnell nähernde Schritte hinter mir. Ich fahre erschrocken herum. Ich blicke in den Kegel einer gedimmten Taschenlampe. Luna steht hinter mir und sieht mit einem erstarrten Blick auf Al. „Mach Platz!" Sie stößt mich grob zur Seite, zieht ein langes Tuch aus ihrer Tasche und presst es auf Al's Bauch. „Ich wusste doch, dass er etwas abbekommen hat. Los, hilf mir! Wir müssen ihn von hier wegbringen. Er ist sonst eine leichte Beute für die O-F-U-A." Sie wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich nicke als Antwort. Wir packen Al an den Schultern und tragen ihn den Gang entlang.

Aus der Ferne höre ich ein leises Plätschern. Wir kommen an einen großen Seitentunnel in welchem dunkles Wasser langsam vor sich hinfließt. „Kommt schnell! Hier rüber!" Taju winkt uns wild aus einem Boot zu. Wir legen Al vorsichtig hinein und setzen uns hinter ihn. "Bei euch beiden soweit alles ok?" Ein Mann hat sich über Al gebeugt und würft mir und Luna einen kurzen prüfenden Blick zu. "Wer sind Sie?", frage ich. Er hat kurze braune Haare und eine lange Narbe auf der Stirn. "Alles ok, das ist nur Phil." Taju kniet sich neben mich und untersucht meine blutverschmierten Hände. „Das ist Al's Blut.", sage ich, wie in Trance. „Phil ist ein Arzt. Er hat zwar keine Zulassung, aber es gibt weit und breit keinen besseren als ihn.", erklärt Taju weiter. Phil wickelt das Tuch um Al's Bauch noch etwas fester. „Was ist passiert?" Er sieht Luna ernst an. Luna sitzt zusammengekauert neben Al. Ihr Gesicht ist kreidebleich. Auf Phils Frage reagiert sie gar nicht. "LUNA!" Sie zuckt erschrocken zusammen als Phil sie an den Schultern packt. "Sag mir was passiert ist. Sonst kann ich ihm nicht richtig helfen." Luna schluckt schwer. Ihr laufen Tränen aus den Augen. Verzweifelt sieht sie Phil an, welcher ihre Schultern wieder loslässt. „Ich wurde von einem Beamten der O-F-U-A angegriffen. Sie haben mit ihrer Taserwaffe auf mich geschossen. Al wusste, dass ich keine Sicherheitsweste trug. Also hat er sich dazwischengeworfen."

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