teatime

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teatime
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04. Mai 2018

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SEOULS NACHTHIMMEL kennt keine Sterne.

Die Luft ist an den meisten Tagen von zu viel Feinstaub geplagt und die Stadtlichter sind ohnehin zu grell, als dass man sie sehen könnte. Ajin schaut zur späten Stunde dennoch oft hinaus und sucht nach den Perlen des Himmels. Sie lehnt sich weit aus ihrem Wohnzimmerfenster und blickt nach oben, wartet auf ein Wunder.

Am heutigen Tag geschieht tatsächlich eines. Eines, das sich die 62-Jährige seit geraumer Zeit sehnlicher gewünscht hat als den Blick auf alle Sternbilder des Weltalls.

Als es um etwa halb neun an ihrer Tür klingelt, wirbelt sie herum. Ihr weiter Faltenrock in einem edlen Rosenton folgt der Regung; wie kleine Wellen bewegt sich der Stoff um ihre Beine. Sie öffnet eilig die Tür und erblickt das Gesicht eines guten Freundes, der ihr vor einigen Minuten telefonisch eine Ankündigung machte, die ihr die sie sonst zu dieser Zeit überfallende Müdigkeit auf einen Schlag aus dem Körper sog. Ihr Herz schlägt schnell, ihr Verstand ist hellwach. Sie kann es kaum erwarten, die erfreuliche Nachricht von Angesicht zu Angesicht überbracht zu bekommen. »Oh Dongjae«, sagt sie und ihre Stimme klingt fast schon zerbrechlich, so groß ist ihre Freude und die Angst, in ihren Hoffnungen enttäuscht zu werden. »Es ist schön, dich zu sehen. Komm herein.«

Nachdem ihr Besucher sich im Eingangsbereich die abgetretenen Sandalen von den Füßen geschoben hat, reicht er ihr ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen. »Ich habe dir Tee mitgebracht.«

»Das ist nett von dir. Ich bringe uns gleich zwei Tassen.« Das Wasser hat Ajin schon vorgekocht und so dauert es nur einen Augenblick, bis sie sich zurück zu Dongjae ins Wohnzimmer auf ihr hellblaues Sofa gesellt. Ihr Freund sitzt mit dem Rücken zum offenen Fenster, wo die nächtliche Sommerbrise die blütenreinen Spitzenvorhänge tanzen lässt. Ajin stellt ihrer beiden Tassen Grüntee auf den niedrigen Tisch. Dann faltet sie ihre mit Altersflecken übersäten Hände auf ihrem Schoß zusammen und schaut ihren Freund gespannt an. »Du bist dir ganz sicher, ja? Er hat wahrlich mit Aristoteles gesprochen? Seine Worte wirklich verstanden?«

»Er hat ihn vollkommen wahrgenommen«, bestätigt Dongjae.

Ajin schlägt die Hände vor ihrem Mund zusammen. Mit einem Mal wird sie von solch einem Gefühlschaos durchflutet, dass ihr Tränen in die Augen schießen. »Oh, das ist wundervoll!«, haucht sie. »Dass wir das noch erleben durften!«

Unweigerlich schaut sie in Richtung der verschlossenen Tür am Ende ihres Flurs. Dongjae folgt ihrem Blick. »Wie geht es ihm?«, fragt er leise. Seine verminderte Lautstärke wäre nicht nötig gewesen, denn Ajins Mitbewohner hat sich schon längst schlafen gelegt. Die 62-Jährige seufzt, ihre Finger krallen sich in ihren Faltenrock. »Wie immer«, sagt sie.

Für einige Atemzüge ertönt in ihrem heimeligen Wohnzimmer nur das Klimpern von feinen Teelöffeln gegen die mit Wölkchen bemalte Keramik ihrer Tassen. Als Ajin einen Schluck kostet, spürt sie augenblicklich, wie sie eine Ruhe überkommt, die das Trinken von Tee immer bei ihr auslöst. »Danke, Dongjae.«

»Gerngeschehen.« Der Mann erwidert ihr Lächeln über den Rand seiner dampfenden Teetasse hinweg, ehe er ebenfalls einen Schluck nimmt. »Ab hier werden wir den Dingen wohl ihren Lauf lassen müssen«, sagt er.

Ajin nickt nachdenklich. »Das Schicksal verirrt sich nicht. Aber wir können ihm einen Stupser in die richtige Richtung geben, meinst du nicht?«

»Also glaubst du, die beiden gehören zusammen?«

»Es ist mehr ein Bauchgefühl als feste Überzeugung. Vielleicht auch ein wenig Verzweiflung«, gibt sie zu.

»Dein Bauchgefühl hat dich noch nie getäuscht, Ajin-ah. Es muss eine Bedeutung haben, dass Yoongi ausgerechnet an dem Tag in meiner Teestube aufgekreuzt ist, als ich das Bedürfnis verspürte, einen Mitarbeiter einzustellen. Dabei komme ich mit meiner Kundschaft gut allein zurecht.« Aus Gewohnheit streicht Dongjae sich nachdenklich über seinen kurzen Bart. Es ist nichts Neues, dass seine Intuition ihn Dinge tun lässt, die sich später als richtig und wichtig herausstellen. Was nicht bedeutet, dass er sich an die kleinen Wunder gewöhnt hat.

Irgendwie schafft Ajin es, ihre Lippen zu einem schmalen, unehrlichen Lächeln zu bewegen. »Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Wie vielen Leuten sind wir in all den Jahren begegnet, die so wie wir gesehen haben?«, fragt sie und Dongjae schüttelt betrübt den Kopf, weil die Antwort keine lautet. 

»Yoongi ist besonders. Ich bin mir sicher, dass er Jimins Rettung sein wird«, sagt er.

So zuversichtlich, wie ihr guter alter Freund klingt, würde auch Ajin gerne sein. »Ich hoffe es doch sehr«, sagt sie, die Stirn in nachdenkliche Falten geteilt. »Denn ich kann nicht länger mit ansehen, wie Jimin leidet. Er braucht Liebe. Und das von der richtigen Person.«

Dongjae nickt zögerlich, denn ein anderer Gedanke, welchen er auf dem Weg hierher wie einen schweren Sack importierten Grüntee mit sich herumtrug, kämpft sich in seinem Kopf gerade nach vorn. Der alte Mann reibt sich über die Stirn, bevor er leise fragt: »Wenn wir uns nicht in Yoongi täuschen... wenn er der Richtige ist und das Ganze gelingt – worauf wir natürlich hoffen – dann... dann wird es sein Herz in tausend Scherben sprengen, nicht wahr?«

Ajin nickt langsam. Sie trinkt von ihrem Tee, doch die köstliche Mischung schmeckt plötzlich wie fade Brühe. Es gefällt ihr nicht, Yoongi all das zumuten zu müssen. Dafür ist ihr Seniorenherz viel zu weich. Ein Herz, das jeden Tag aufs Neue zerbricht, weil sich die Verfassung des Enkels ihrer besten Freundin nicht verbessert. All ihre eigenen Versuche, ihn von seinem Leid zu erlösen, haben nichts gebracht. Sie hat keine andere Wahl, als ihre gesamte Hoffnung in Yoongi zu stecken. Also sagt sie mit bedrückter Stimme:

»Ich hoffe, er ist stark genug, seine Scherben wieder zusammenzusetzen. Denn dies ist der einzige Weg, um Jimin endlich mit Frieden zu segnen.«

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A/N

Und da ist sie, die zweite teatime! In meinem Erstentwurf der Geschichte war diese Passage tatsächlich das erste Kapitel :) Ich finde, hier passt sie viel besser rein... 

Jetzt mal weg von der Geschichte:
Leute, wie geht es euch so? In NRW hat die Hochwasser-Katastrophe verheerende Folgen und richtet extremen Chaos an, seid ihr betroffen? Ich hoffe, es geht euch und euren Liebsten gut!🧡 


Seelenfrieden | yoonmin || ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt