kapitel acht

163 29 244
                                    

kapitel acht
༻༻༻⋇⋆✦⋆⋇༺༺༺

15. Mai – 03. Juni

───── ⋆⋅☆⋅⋆ ─────


WENN YOONGI eine Metapher für Jimin finden müsste, würde er ihn als eine Walnuss beschreiben. Eine wirklich sehr stabile Walnuss.

Entweder sind seine Worte nicht das richtige Werkzeug, um die Schale zu knacken oder aber die Walnuss hat so viel Energie in ihren Schutzmantel gesteckt, dass sie mittlerweile darin gefangen ist. Aus Schutz wurde eine Gefängniszellle. Und es liegt bei Yoongi, den Schlüssel dafür zu finden.

In den folgenden Tagen laufen seine Besuche immer gleich ab. Stets hat sich Jimin schon in sein Zimmer verschanzt, wenn Ajin Yoongi willkommen heißt und die beiden Jugendlichen dann allein lässt. Yoongi kann die Kiefernholzmusterung von der Zimmertür, an die er sich Tag für Tag lehnt, mittlerweile auswendig. Jeden Tag fragt Jimin zuerst, ob ihm beinahe etwas zugestoßen ist und jedes Mal antwortet Yoongi, dass es ihm gut geht. Er kann nicht einschätzen, wie sehr er Jimin wirklich davon überzeugt. Nur seine Stimme zu lesen ist schwer – wenn er ihm denn mal ein paar Worte entlocken kann.

Als Yoongi ihn am Anfang noch darauf anspricht, dass es nicht gut für seinen Körper sein kann, nicht an die frische Luft zu gehen, entgegnet er: »Die bekomme ich auch, wenn ich hier die Fenster aufmache.«

»Und außerdem brauchst du Bewegung!«

»Ich mache Homeworkouts.«

Diese bündigen Antworten sind purer Luxus. Die meiste Zeit ist das Reden ihm überlassen. Yoongi verliert sich in Monologen über seine Lieblingsrapper und wie unverantwortlich es von der Menschheit ist, die Ressourcen der Erde zu übernutzen. Er beschreibt, wie der Sommer das Land komplett in seiner Hand hat und wie es in den Abendstunden am Hangang nur so wimmelt von Menschen, die Entspannung suchen. Manchmal, wenn er das Gefühl hat, er nervt Jimin mit seinem Gerede, spielt er von seinem Handy seine Lieblingslieder ab und sie schweigen gemeinsam. Jimin reagiert nie. Bis Yoongi eines Tages ein Buch dabei hat.

Erst kommt sich der Teenager dumm dabei vor, ihm aus einer Märchensammlung vorzulesen, obwohl Sagen oft beruhigend sind und Trost spenden. Schließlich ist Jimin kein kleines Kind. Von Ajin weiß Yoongi, dass er siebzehn Jahre alt und damit nur ein Jahr jünger ist als er selbst. Außerdem zeigte sie ihm bei einem ihrer Besuche in der Teestube ein Foto von Jimin, ohne dass Yoongi danach gefragt hätte. Es war ein Familienbild.

»Das ist meine beste Freundin Danoh... gewesen. Das hier ist ihr Mann und das ist Jimin. Ihr Enkel.« Als sie Yoongi über ihren Teebecher hinweg ihr Smartphone entgegen hielt, funkelten ihre Augen. Ajin blinzelte die Tränen weg, bevor sie über ihre runzeligen Wangen kullern konnten, und ergänzte: »Das Foto ist aus einer Zeit, in der er noch glücklich war. Ich habe ihn lange nicht mehr auf diese Weise lächeln gesehen.«

Yoongi nahm das Handy in seine Hand und betrachtete das Bild genauer. Seit seinem ersten Besuch hatte er versucht, sich Jimin vorzustellen. Und war dabei der Realität nicht im Mindesten gerecht geworden, wie er jetzt merkte. Auf dem Foto sitzt Jimin mit seinen Großeltern am Tisch eines Eiscafés und hat die Arme um sie beide geschlungen. Die Sonne strahlt auf ihre glücklichen Gesichter, sie alle haben ihre Augen leicht zusammengekniffen und Jimins pechschwarzes Haar glänzt mit seinem breiten Grinsen um die Wette. Yoongis Herz machte bei diesem Anblick einen Hüpfer, den er nicht ganz zuordnen konnte. Dann erkannte er, was ihn am Bild irritierte: Das Strahlen dieses glücklichen Jungen, das Lächeln, das sich bis auf seine Augen überträgt – das passt nicht zu der Stimme, die er Tag für Tag durch das sie trennende Kiefernholz hört. Eine Stimme, die gebrochen ist vom Schmerz, die ihr Besitzer erlitt. Und weiterhin erleidet.

Seelenfrieden | yoonmin || ✓Where stories live. Discover now