kapitel einundzwanzig

102 25 23
                                    

kapitel einundzwanzig
༻༻༻⋇⋆✦⋆⋇༺༺༺

16. August

───── ⋆⋅☆⋅⋆ ─────


NOCH NIE in seinem Leben ist Yoongi so schnell gerannt. Seine Euphorie lässt ihn beinahe schweben. Denn das Jimin plötzlich verschwunden ist, kann nur eine Sache bedeuten.

»Er kommt zurück!«, ruft er in sein Handy, dabei der Menge auf dem Jahrmarktplatz ausweichend. Je später es wird, desto mehr Leute versammeln sich, um sich vom Lichtermeer der Geräte verzaubern zu lassen und eine Nacht voller Spaß und Adrenalin zu erleben.

»Was meinst du? Wovon sprichst du?«, fragt Ajin auf der anderen Seite des Hörers. Sie klingt alarmiert.

Endlich hat Yoongi das Gedränge hinter sich. Er orientiert sich kurz und läuft dann den Bürgersteig runter. Die Haltestelle mit der U-Bahn, die ihn direkt nach Seoul bringen wird, befindet sich ganz in der Nähe. »Ich habe Jimin gerade meine Gefühle gestanden und danach ist was richtig Komisches passiert – er war einfach weg! Hat sich in Nichts aufgelöst!« In der Ferne erkennt Yoongi den herantuckernden Bus, der ihn schneller an sein Ziel bringen wird. Er legt einen Zahn zu und schafft es in letzter Sekunde, durch die sich nur für ihn öffnenden Türen zu springen.

»Das kann nur eine Sache bedeuten«, macht er weiter, während er sich auf einen weichen Sitz fallen lässt und versucht, seinen schweren Atem zu regulieren. Nur zu deutlich spürt er die Snacks vom Jahrmarktbesuch in seinem Magen. Zusammen mit der Aufregung rumort er wild. »Er kommt zurück, richtig? Ich bin auf dem Weg zum Krankenhaus. Kommen Sie auch?«

»Ich bin schon da. Beeil dich«, antwortet Ajin knapp und legt auf.

Von einem zum anderen Ohr grinsend schiebt Yoongi sein Handy in seine Jackentasche und das Fenster zu seiner Seite einen Spalt breit auf, um sich vom leichten Luftzug des fahrenden Busses die Strähnen aus der Stirn pusten zu lassen. Offensichtlich kann es auch Ajin kaum erwarten, den echten Jimin wieder in ihre Arme zu schließen.

Genau wie die kurze Busfahrt vergeht auch die knapp zweistündige Bahnfahrt nach Seoul für seinen Geschmack viel zu langsam. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi, seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Als Yoongi endlich aussteigen kann, sprintet er direkt los. Am Krankenhaus angekommen, ignoriert er die Rezeption und rennt weiter auf die Etage, auf der sich Jimin befindet. Er reißt die Tür auf – und stockt vor Überraschung. Tatsächlich ist Ajin schon da. Sie schnäuzt in das zerknitterte Taschentuch in ihrer Hand und blickt ihn mit tränennassen Augen an. Neben ihr steht Dongjae.

Und über Jimins Kopf leuchten ihm zum ersten Mal silberne Zahlen entgegen. Sie sind ein Schlag ins Gesicht. Yoongis Knie knicken weg, er krallt sich an den Türrahmen. »Nein«, haucht er. »Nein, nein, nein, nein, nein

00:00:00:00:03:41.

Der unerwartet niedrige Betrag schlägt wie ein Blitz in sein Bewusstsein ein. Er reißt sich von der Tür los und eilt auf die andere Seite des Bettes. »Was passiert mit ihm?«, schreit er. »Warum ist er noch nicht wach?« Warum rinnt uns die Zeit davon?

Ajin schluchzt wieder los, also übernimmt Dongjae das Sprechen. »Es gab gerade ein paar... Komplikationen.«

»Was soll das heißen?« Yoongi greift nach Jimins Hand, betrachtet sein Gesicht, will diese verfluchten Zahlen aus der Luft reißen. Er sollte aufwachen, ihn mit seinem bezaubernden Lächeln begrüßen, doch stattdessen liegt Jimin so reglos da wie bei seinem letzten Besuch. Der einzige Unterschied ist eine minimale Verspannung um seinen Mund herum. Es sieht aus, als hätte er Schmerzen. »Was stimmt nicht mit ihm?«

»Sein Herz blieb kurz stehen.«

»Was

»Nur kurz!«, beschwichtigt ihn Dongjae sofort. »Bevor das Personal irgendetwas davon gemerkt hat, haben sich seine Werte wieder stabilisiert. Es ist... als würde er auf etwas warten, bevor er endgültig geht. Oder eher auf jemanden

Seine Worte kommen nur langsam bei Yoongi an, der nicht wahrhaben möchte, was der alte Mann da impliziert. »Sie haben was falsch verstanden!«, entgegnet er heftig. Die sinkenden Zahlen sind wie das Ticken einer Bombe, zerfetzen seine Zukunftsträume. »Jimin geht nicht, er kommt zu uns zurück. Unter die Lebenden. Sagen Sie es ihm, Halmeonim. Sagen Sie ihm, was Sie auch mir erklärt haben. Sagen Sie mir, dass das nicht stimmt, was Harabeonim sagt!«, bricht die Verzweiflung aus ihm hervor.

Ajin schüttelt nur den Kopf, wird von einer neuen Schluchzerwelle durchrüttelt.

Da realisiert es Yoongi. Eissplitter regnen auf ihn herab. »Sie haben mich angelogen. Schon wieder.«

»Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, mein Junge«, flüstert Dongjae und tritt einen Schritt zurück. Er zittert, dabei ist der Raum eigentlich warm.

Beziehungsweise war er es, bevor Yoongis Herz von einem auf den anderen Moment zu einem Eisblock erfror. Wenn er nicht plötzlich von tiefer Angst und Verzweiflung ergriffen worden wäre, hätte er auch ihn angeschrien, hätte ihn brüllend beschuldigt, ein verdammter Lügner zu sein. Aber jetzt zählt nur Jimin. Jimin, dessen Hand er hält. Jimin, den er nicht gehen lassen möchte.

»Jimin, ich bin's. Yoongi. Ich bin hier, hörst du?« Yoongi weiß nicht, ob er es sich einbildet, aber es ist, als würden sich Jimins Schultern entspannen. Ein Hoffnungsschimmer geht in ihm auf. Er kann den Jüngeren zurückholen, er kann es schaffen!

Er lässt seinen Gefühlen freien Lauf, lässt sein Herz sprechen. Sein Herz, dass Risse bekommen hat. Sein Herz, das droht, jeden Moment zu bersten. »Du kannst jetzt nicht einfach loslassen, hörst du? Wir haben doch so vieles geplant, was wir erleben wollen! Wir wollen ins Planetarium, Korea wartet darauf, von uns mit dem Fahrrad durchquert zu werden und du hast mit mir noch nicht alle Eisbecher probiert, von denen du immer schwärmst. Ich habe...«

Schluchzer durchrütteln ihn, Yoongi schnieft und streicht sich die nervigen Tränen aus dem Augenwinkeln, durch die er Jimin nur verschwommen sieht. »Ich habe dich noch nicht meiner Familie vorgestellt«, würgt er mit belegter Stimme hervor. »Ich habe dir noch nicht so richtig gesagt, was ich alles für dich empfinde. Also denk gar nicht daran, zu sterben, hörst du? Du darfst nicht sterben! Nicht du auch noch! Hörst du, Jimin? Verlass mich nicht! Jimin!«

Heute hätte doch eines der glücklichsten Tage im Leben des Jüngeren werden sollen. Der Tag, an dem sie gemeinsam ihren nächsten Lebensabschnitt beginnen würden.

»Was ist aus Wir gegen den Rest der Welt geworden?« Mittlerweile weint Yoongi so heftig, dass nicht einmal er seine Worte klar entziffern kann. Doch er kann die Tränen des Schmerzes nicht stoppen und vergräbt sein Gesicht in der Decke auf der Brust des Jüngeren. »Jimin, komm zurück«, schluchzt er neben sein Herz. »Ich flehe dich an, lebe.«

Und dann spürt er einen leichten Druck an seiner Hand. Erschrocken über dieses plötzliche Lebenszeichen richtet sich Yoongi ruckartig auf. »Jimin?«

Erneut ist da dieser hauchzarte Druck von Jimins Hand, die der Ältere die ganze Zeit nicht losgelassen hat. Nur eine kleine Geste, die so viel bedeuten kann.

Ich danke dir für unsere Zeit.

Ich liebe dich.

Yoongi wird nie erfahren, was es ist.

Denn Jimins Leben ist abgelaufen. Zeitgleich mit dem Erschlaffen von seinem Griff geben die Maschinen ein warnendes Piepen von sich. Yoongi brüllt los und krallt sich in die Decke. Dongjae hält ihn fest. Ajin schreit.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen.

Und dann herrscht Chaos.

───── ⋆⋅☆⋅⋆ ─────


Seelenfrieden | yoonmin || ✓Where stories live. Discover now