Kapitel 1

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Tag der Hochzeit

„Hey Schnecke!", begrüße ich die Person auf der anderen Leitung.
Die Person, die mir den Kopf verdreht hat. (Und dafür weniger als ein paar kurze Wochen brauchte.)
Die Person, die mich vielleicht so fühlen lässt, wie es mein Bruder schon seit Wochen, ja sogar Monaten, fühlt, dank Lyra.
Die Person, die ich seit Wochen versuche vor jedem geheim zu halten.
Die Person, mit der ich keine richtige Beziehung führen kann und wahrscheinlich nie werde. Und dabei weiß die Person nichts von all dem. Rein gar nichts.

Betrunkene Gespräche bereut man wohl immer am nächsten Tag, aber ich habe schon so viele geführt, dass ich die meisten vergessen habe und das ist wiederum toll, da ich sie ja dann auch nicht bereuen kann. Genau. So wird's heute wahrscheinlich auch sein.
„Schnecke?", höre ich Lyras fragende Stimme in meinem Rücken. Mit dem Handy am Ohr bin ich schon los, mir einen Weg aus der Menge suchen. Ich muss diese Stimme einfach in aller Stille genießen. „Edmond" Ein Lächeln kreuzt meine Lippen, als ich die honigsüße Stimme höre, die meine Ohren umspielt. „Ich hab mich schon gefragt, wann du anrufst. Nimmst du mein Angebot an?" Das Angebot ist nichts anderes, als eine Einladung zum Sex bei mir im Haus nach der Hochzeitsfeier. Ein Dreier, anders gehts nicht.
„Ed..." Die Stimme hört sich schlagartig gar nicht gut an. Die übliche Freude fehlt. Stattdessen höre ich Trübsal und Traurigkeit heraus. Aus nur diesem einen Wort.
„Ed, meine Tante ist grade gestorben." Mein Mund bleibe ein Stück offen und ich muss mich zwingen weiterzulaufen. Jetzt brauche ich erst recht Ruhe. Ich höre ein Schluchzen, was meiner Brust einen kleinen Stich versetzt und meine Beine zum schnellen Laufen treibt. „Warte einen Moment."
Ich drücke die nächste Tür nach draußen auf. Die frische Luft befreit meinen Kopf von einem Teil des Drucks, der auf mir lastet. Auf einmal wünsche ich mir, ich wäre doch nicht so betrunken. „Wann?", frage ich knapp und bestürzt als nächstes. Ein Schluchzen. „Vor knapp einer Stunde. Sie ist einfach umgekippt. In unserer Küche." Die Stimme bebt und sticht weiter auf mein Herz ein. „Man konnte nichts mehr für sie tun. Sie war einfach tot. Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Ich habe sie gefunden. Ed, ich kann das nie vergessen." Wäre ich nur da. Könnte ich nur körperlichen Trost spenden, mit dem weiß ich wenigstens umzugehen. „Es tut mir so leid. Wo bist du grade?"
„Mit meiner Familie Zuhause. In meinem Zimmer. Ich weiß auch nicht, warum ich dich angerufen habe... dein Name kam mir einfach als erster in den Kopf. Und dabei hat dein Dad doch heute geheiratet!" Ich will nicht über die Hochzeit reden, vielmehr darüber, wie es grade Zuhause bei ihnen aussieht. Wie sich die Person fühlt, die ich so sehr mag und die mich als ersten Menschen von allen auf dieser Welt angerufen hat, um mit mir über ihren Verlust zu reden.„Nein, sag mir einfach, was ich für dich tun kann. Soll ich rum kommen oder möchtest du zu mir. Ich kann hier weg, jeder Zeit."
„Nein, Ed, ich glaube... ich glaube du hast erstmal genug getan." Mein Gesicht zeigt wohl grade meine Verwirrung. „Ich hab doch gar nichts gemacht!", protestiere ich verdutzt, aber nicht aufgebracht. „Doch." Im Hintergrund ertönen jetzt ein paar Stimmen, die nicht mehr Englisch sprechen. Es sind mehrere und alle reden durcheinander. „Ich muss los, meine Mutter braucht mich." Ich nicke, dabei ist das völlig sinnlos, niemand sieht mich. „Nochmal, es tut mir so leid. Bitte-"
„Ich muss." Und schon ist der Anruf beendet. Frustriert und vielleicht auch ein wenig wütend haue ich gegen sie Fassade des Gebäudes. Nicht stark, aber stark genug, dass ich mir ein paar Schrammen hole. Warum ich wütend bin? Keine Ahnung.
Vielleicht, weil der Anruf beendet worden ist. Vielleicht, weil ich nicht da sein kann.
Vielleicht, weil ich ein elender Feigling bin.

Mann, ich muss runterkommen. Aber der Alkohol und das Gras haben mir grade nicht unbedingt geholfen und auch jetzt nicht. Andere Drogen habe ich nicht dabei und versuche ich nicht mehr zu nehmen, an die Docks kann ich jetzt auch nicht, also bleibt nur noch eine Sache übrig. Vögeln. In letzter Zeit macht mir das immer weniger Spaß und hilft mir immer weniger, denn wenn diese Person nicht dabei ist, dann ist es sowieso belanglos. Ich glaube, dass ich mich dann sogar schlechter fühle als danach.
Sex ist eine Droge. Und nur mit den richtigen ist sie etwas gutes, sonst gibt es nur diesen kleinen Moment, den Moment wenn der Körper bebt, die Muskeln und Gedanken verrückt spielen und du den Höhepunkt erreichst. Sobald der weg ist, bricht alles wieder in sich zusammen.
Aber genau das brauche ich jetzt. Wenn nicht mit dieser einen Person, dann eben mit einer anderen.

Nur ein Junge | ✔️Donde viven las historias. Descúbrelo ahora