Kapitel 23

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Ich konnte Rico gestern den ganzen Tag nicht erreichen und heute sieht es nicht anders aus. Lyra ist bei mir geblieben, wir haben ziemlich viel geredet und danach noch einen Film geguckt, bei de sie neben mir schnell eingeschlafen ist. Ich war so frei und hab von ihr ein Foto gemacht, als ihr grade der Mund aufgefallen ist und so wie ich das aus ihren Nachrichten entnehmen konnte, mochten Ashton und James dieses Bild genauso sehr wie ich. Lyra selbst fand es heute morgen nicht allzu witzig, aber den bösen Blick und die Kissenschlacht hab ich in Kauf genommen. Dieses Mädchen hat es mal wieder geschafft mich aufzumuntern in einer Lage, wo ich dachte, dass ich völlig alleine da stände. Und diese besondere Gabe, Leuten zu helfen, nur mit Worten und ihrer Anwesenheit, hat sie nicht zum ersten Mal gestern bewiesen. Auch in der Schule hat sie mir die Laune verbessert, doch leider war auch die Wirkung ihrer Worte irgendwann mal weg.

Nachmittags habe ich es noch Zwei Mal versucht bei Rico und bin sogar zu ihm gefahren, aber entweder war er nicht Zuhause oder wusste, dass ich es war und hat deshalb absichtlich nicht aufgemacht. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich nur seine Sachen, die er gestern bei mir hat liegen lassen vorbei bringen wollen, aber die, wie die vielen Nachrichten davor, hat er einfach nicht gelesen. Ich bin am Ende und bin mir nicht sicher, wie lange ich dem Bedürfnis, mir die Kehle zu zu schütten und so viel zu nehmen, dass mein Gehirn einfach ausschaltet und ich wieder nichts fühlen muss, noch widerstehen kann.

Es ist wie ein Parasit, der sich immer wieder bemerkbar macht, sobald nur etwas winziges schief geht. Es muss nur ein ein schlechter Tag sein, da beginnt mein Blut wieder zu kochen, meine Haut zu jucken und alles in mir schreit nach Drogen und Alkohol. Schreit nach der Betäubung, die mir so viel erleichtern würde. Seit einer Stunde knibble ich mir meine Finger kaputt, weil ich mich einfach nicht ablenken kann, Egal was ich tue, meine Gedanken landen früher oder später bei der Idee, wie einfach es wäre, jetzt ein Teil oder eine Pille zu nehmen, eine Line zu ziehen oder sonst was zu rauchen. Irgendwann ist es zu viel. Mein Kopf summt schon und ich kann gar nicht mehr klar denken. Es gibt nur noch eine Sache, die mich jetzt hier raus holen könnte.

Ich nehme mein Handy in die Hand und texte Fist.

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„Um Gottes Willen, wo bist du denn reingeraten?" Lyra hat die Hände vom Lenkrad genommen, um nach mir zu greifen und ich weiche auch nicht aus, als ihre weiche Hände erst die eine Wange, dann die andere Wange berühren. „Ist gar nicht so schlimm wie's aussieht."

„Gut, denn es sieht so aus, als wäre nh Herde Bullen über dich her gerannt. Was hast du angestellt?!" Ich beiß mir auf die Innenseite der Lippe, nicht aus Angst vor Anschiss, auch wenn sie schon sehr streng sein kann, eher vor Scham. Denn mein Gesicht und die blauen Flecken an Bauch und Rücken sind das Ergebnis Vier verlorener Kämpfe gestern an den Docks. „Können wir vielleicht erstmal los fahren und weg hier? Noch hat mein Dad mich nicht gesehen und das kann auch ruhig so bleiben." Sie schnalzt mit der Zunge, zieht ihre Hände aber zurück und startet den Wagen. Erst als wir vom Grundstück runter sind und auf der Straße fahren, fragt sie wieder nach. „Also? Eine Erklärung, warum du Farben einer Pflaume im Gesicht hast?" Ich lass den Kopf nach hinten auf die Kopfstütze fallen und stöhne etwas genervt auf. „Ich war nur an den Docks und anscheinend-"

„Du warst ohne mich, da unten?!" fragt sie empört und guckt mich durch den Rückspiegel mit kleinen, grünen Augen an. „Deswegen bist du sauer?", frag ich etwas verdutzt nach. „Ich hab's langsam aufgegeben euch Idioten das Prügeln aus dem Kopf zu reden, aber nur, weil ich immer dabei bin. Nur weil ich weiß, dass nichts passieren, kann solang ich dabei bin und euch an den Ohren daraus ziehe, wenn ich davor seid eine dumme Entscheidung zu treffen. Und ich kann wenn euch dann doch mal die Faust trifft die Wunden wenigstens etwas verwunden." Stimmt, das kann sie in der Tat. „Du meinst also, du hättest meine Niederlage verhindern können, ja?", frag ich mit einem herausfordernden Unterton, auf den sie sofort anspringt.

„Ich hätte dich davon abgehalten, den Fehler überhaupt erst zu begehen! Du bist doch nur kämpfen gegangen, weil du den Kopf voll hattest. Wegen der Sache mit Rico. Da kann man nicht klar denken, verstehst du? Du weißt nicht, wie sauer ich war, als ich Ashton da... du weißt schon." Ich nicke eilig, das Bild von Ven und Ash kommt sofort auch in meinen Kopf. Obwohl ich die beiden nicht mal zusammen erwischt habe. „Ich hätte jemanden gebrauchen können, der mich gepackt hat und mich von meinen impulsiven Entscheidungen abgehalten und bewahrt hätte."

„Ich verstehe, aber... es war ja nicht nur Rico.", murmle ich schließlich. Dieses Mal dreht sie ihren Kopf ganz zu mir, um mich angucken zu können. „Hast du... bist du wieder-" Ich schüttle den Kopf und reib mir über die Stirn, wo ich ein hässliches Pflaster kleben habe, weil sich darunter eine kleine Schnittwunde befindet, die heute morgen noch immer geblutet hat. „Nein, ich hab nichts genommen, was nicht heißt, dass ich es nicht tun wollte, klar?" Sie presst die Lippen aufeinander und fährt dann plötzlich wie eine Verrückte aus dem Verkehr an den Rand. „Du lieber Himmel! Lyra, wie fährst du bitte!" Aber sie parkt ohne Probleme am Rand der Straße und der Verkehr vor und hinter uns fährt problemlos weiter. „Wie eine Frau, also bombastisch."

„Naja" Den Zwischenscheiber ignoriert sie. Anhand ihrer Körperhaltung und Blick kann ich sofort erkennen, dass sie reden will. „Ich kann dir nicht grade sagen, dass ich weiß, wie du dich fühlst, aber ich kann dir sagen, das sich da bin und ich bin nicht die einzige. Ob du es glaubst oder nicht, dein Bruder, James, dein Vater und sicher auch Rico machen sich Sorgen um dich."

„Oder darum, wie es aussehen könnte."
„Das ist Bullshit, all diese Menschen sorgen sich um dich. Um nichts anderes, verstanden? Und ich bin verdammt stolz auf dich, Edmond. So sehr. Du warst der erste, der nett zu mir war und egal was war, du hast zu mir gestanden und ich werde immer zu dir stehen. Mir ist egal, ob du bisexuell bist, ob du mal einen schlechten Tag hast und mir ein paar Beleidigungen gegen den Kopf wirfst oder sonst was treibst in deinem Bett, aber mir ist nicht egal, wie es dir geht. Also rede. Ruf mich an und wir gehen raus. Wir tun was du willst und von mir aus stehe ich daneben und gucke zu wie du dir eine klatschen lässt, aber lass mich dabei sein." Ich schlucke und einen Moment gucke wir uns nur stumm an.

Ich hab noch nie mitgekriegt, wie Lyra so... lieb und ehrlich ist. Und dann noch zu so einem Arschloch wie mir. „Danke"

„Hör auf dich zu bedanken, Mann. Das macht eine Freundin eben."
„Du meinst wohl eine beste Freundin." Ich wackle mit den Augenbrauen und Lyra lacht los. „Dann eben beste Freundin. So, können wir jetzt zur Schule? Wollen ja nicht, dass du den Chemie Test nochmal verpasst."
„Fahr schon los." Und so rast sie auch wieder wie eine Verrückte weiter.

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Nach der Schule rufe ich noch einmal Rico an, ich nehme gar nicht an, dass er dran geht, doch dann... „Was willst du?" Erst bin ich zu überwältigt und dann verlassen all die Worte, die ich ihm so gern gesagt hätte meinen Kopf und da ist nichts mehr. „Hallo?", ruft er fragend in den Hörer und ich versuche mich wieder zu fassen. „Rico... ich wollte... ich bin's, Ed-"
„Ich weiß, ich kenne deine Nummer, was willst du?"

„Ich wollte dir nur was sagen-" Schon wieder lässt er mich nicht ausreden. „Willst du mir sagen, dass da nicht zwischen uns ist oder dass ich ein Fehler war, denn ich hab auf beides grade keinen Nerv." Aua, das hat gesessen. „Nein, nein, ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut. Rico, es tut mir so leid. Ich wusste einfach nicht was ich in diesem Moment sagen wollte und... und dann sind diese Worte einfach aus meinen Mund gekommen. Ich habe alles bereut, noch als ich es gesagt habe, du musst mir glauben... bitte glaub mir." Erst herrscht wieder Stille. Ich hab das Gefühl, dass das einzige, was hier laut ist, mein Herzschlag ist, der wild in meiner Brust geht.

Die Stille wird durchbrochen von einem Ton, der sich so anhört, wie ein trauriges Lachen. „Dios mío, Edmond. Was ist nur falsch mit dir? Wer hat dir so weh getan, dass du so falsch bist? verstehst du es denn nicht, so funktioniert das Leben nicht. Du kannst das nicht weiter so machen! Du kannst nicht einfach Scheiße bauen und dich dann schlecht über dich selbst fühlen, als würde es das okay machen! Du musst besser sein!" Es fühlt sich an, als würd ich keine Luft mehr kriegen. Als gäbe es keine Luft mehr, die ich atmen könnte.

Dann ist es wieder leise. Ein leises Seufzen. „Du musst besser sein, Edmond." Dann ist die Leitung tot und ich stehe allein da. Ganz allein.

Nur ein Junge | ✔️Where stories live. Discover now