Kapitel 5

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Yoongis Mutter war eine kleine, dünne Frau mit bleicher Haut und weichen Gesichtszügen. Als sie die Tür öffnete, musste Jungkook zwei Mal blinzeln, weil er sie fast nicht erkannt hatte.

Es waren bereits einige Wochen vergangen, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die Augenringe unter ihren Augen waren kränklich blau und da waren kleine, veilchenblaue Adern an ihrer Schläfe, die nervös zuckten, als sie die vielen Leute vor ihrer Tür musterte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Die Erschöpfung in ihrem Gesicht ließen ihre Falten mehr hervorstehen. „Oh! Was für eine Überraschung! Wie kann ich euch helfen?"

Ihr Blick blieb etwas länger bei Jimin hängen.

„Ist Yoongi Zuhause?", ergriff Jimin das Wort, der neben Jungkook stand und mit seinen Fingern spielte. „Er war schon länger nicht mehr in der Schule und wir wollten sehen, wie es ihm geht."

„Er ist in seinem Zimmer", antwortete sie. Sie machte jedoch keine Anstalten, sie reinzulassen.

Jungkook bekam ein komisches Gefühl, aber er schluckte es hinunter. „Können wir zu ihm?", fragte er. Er hob die Bücher in seinem Arm. Ihre Augen wurden weicher. Vielleicht auch etwas glasiger. „Ich habe hier alle Sachen, die er für die Abschlussprüfung und das Projekt braucht, ich dachte er—"

„Das ist sehr nett von euch, aber Yoongi geht es zurzeit nicht so gut und ich weiß nicht... ich glaube, er möchte keinen Besuch", sagte sie leise.

„Was, warum?", fragte Jimin sofort. „Was ist los?"

Jungkook warf einen hilflosen Blick zu Jin, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Er verstand nicht, warum sie so zögerte, sie reinzulassen. Sie kannte Yoongis Freunde doch schon so lange.

Sie seufzte erledigt und winkte sie letztendlich mit einer Hand rein.

Die Tür fiel leise ins Schloss und alle drei standen dicht beieinander, während Yoongis Mutter plötzlich viel zu klein wirkte.

„Ist er krank?", waren Jins erste Worte. „Sie sehen auch nicht gut aus, können wir—"

„Er ist krank, aber..." Sie biss sich auf die Lippe, als wollte sie vermeiden, mehr zu sagen. „Heute ist kein guter Tag für ihn, okay? Vielleicht kommt ihr nächste Woche wieder oder—"

„Nein", sagte Jimin und als er sah, wie ihre Hände wackelten, ging er nach vorne und umgriff sie stark. „Was ist los? Ist er schlimm krank? Warum zittern Sie? Bitte." Jimin sah ihr direkt in die Augen. „Bitte sagen Sie, was mit ihm los ist."

Jungkook hatte plötzlich das Gefühl, nicht atmen zu können.

Etwas stimmte nicht.

„Ich... ich kriege ihn nicht aus dem Bett", flüsterte sie gebrochen. Sekunden vergingen, bevor sie wieder weiterreden konnte. „Er liegt im Bett und tut nichts. Er tut gar nichts. Er starrt... die Wand an und immer, wenn ich ihn anspreche, reagiert er nicht und ich—ich habe alles versucht." Sie holte zittrig Luft. „Er spricht nicht mehr. Er isst nicht mehr. Es ist schlimmer." Tränen bildeten sich in ihren Augen und Jungkook wollte wegsehen. „Es ist viel schlimmer als letztes Jahr."

„Okay", sagte Jin etwas verspätet. „Okay. Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden nach ihm sehen. Vielleicht braucht er einfach etwas Zeit."

Es war vielleicht nicht das beste, einer besorgten Mutter zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollte, doch Jin wusste, was er tat und Yoongis Mutter sah aus, als würde sie jeden Rat und jedes noch so leere Versprechen brauchen können. Als alleinerziehende Mutter war es nicht immer einfach für sie gewesen, doch sie hatte es bis jetzt geschafft und sie würde es auch noch viel weiter schaffen.

„Wie lange war er letztes Jahr krank?", fragte Jimin, sein Gesicht blass und starr vor Angst.

„Zwei Wochen", antwortete sie und wischte sich mit ihrer zittrigen Hand den Schweiß von der Stirn. Sie musste gerade erst von der Arbeit gekommen sein. „Es sind jetzt schon vier Wochen und diesmal schaffe ich es nicht allein. Ich wollte schon den Notarzt rufen, aber er ließ es nicht zu." Sie schloss die Augen. „Es tut mir leid. Ihr solltet das nicht mitbekommen. Ihr seid doch nur Kinder und ihr kennt Yoongi schon so lange und er würde nicht wollen, dass—"

Vier Wochen? Yoongi ging es schon seit vier Wochen so schlecht und keiner hatte etwas bemerkt? Er war doch letzte Woche einmal in der Schule und alles war okay gewesen. Er hatte nichts gesagt.

„Vier Wochen", murmelte Jungkook. „Vier Wochen? Jin, wieso haben wir nichts mitgekriegt?"

Jin legte einen Arm um Jungkook und wischte zwischen seine zwei Schulterblätter—eine beruhigende Geste, doch Jungkook entspannte sich kein bisschen. Alles in ihm drehte sich und zog sich zusammen.

„Wir sind Yoongis Freunde", sagte Jin zu Yoongis Mutter. Jungkook verstand nicht, wie er so gefasst sein konnte. Sein eigenes Herz raste viel zu schnell und da war dieses Kribbeln auf seiner Haut. Dieses unglaublich störende und juckende Kribbeln, das einfach nicht verschwinden wollte und am liebsten würde er nach oben rennen und Yoongi von Kopf bis Fuß untersuchen, ihn in eine dicke Decke wickeln und nie wieder loslassen. „Und weil wir seine Freunde sind, sind wir für ihn da. Egal ob in guten oder schlechten Zeiten."

„Jin... du warst schon immer so erwachsen für dein Alter. Aber Yoongi... dieses Mal ist es anders. Er—er vegetiert vor sich hin. Ich kann ihn nicht erreichen. Ich mache mir solche Sorgen und als seine Mutter sollte ich mich um ihn kümmern und nicht ihr." Ihre Augen waren so todtraurig. „Ich kann ihm ausrichten, dass ihr hier wart..."

„Als Hoseok mit acht von einem Baum gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat, war Yoongi derjenige, der ihn bis zur Haustür getragen hat. Er hat so lange geklingelt und gegen die Tür geklopft, bis seine Eltern kamen und ihn ins Krankenhaus brachten", erzählte Jin. Yoongis Mutter schlug sich eine Hand vor den Mund und schluchzte einmal laut auf. „Als Jimin das erste Mal Liebekummer hatte, war Yoongi da für ihn. Jimin hat zwei Monate jeden Tag bei ihm übernachtet, weil er sonst nicht schlafen konnte, wissen Sie noch? Yoongi hat sich kein einziges Mal darüber beschwert."

Sie nickte schwach.

„Als Jungkook nichts essen wollte und immer dünner und dünner wurde..." Jin sah Jungkook an und suchte etwas in seinen Augen. Obwohl Jungkook etwas unwohl bei der Sache war, nickte er einmal kurz. „Yoongi hat ihm jeden Tag zwei Mahlzeiten gekocht und ihm geholfen, alles aufzuessen. Yoongi hat ihn abgelenkt und darauf geachtet, dass er genug Kohlenhydrate zu sich nimmt. Obwohl er selbst Schulstress hatte, hat er immer auf diese Mahlzeiten bestanden. Für Jungkook."

„Oh, Jungkook... Jimin", weinte sie. „Oh."

Jungkook wandte das Gesicht zur Seite und Jimin brachte ein zittriges Lächeln zusammen, das mehr einer Grimasse ähnelte.

„Lassen Sie uns zu ihm gehen", flehte Jin und Jungkook wusste, warum er ihn mitgebracht hatte. Ohne Jin wären sie gescheitert. „Manchmal muss man daran erinnert werden, dass man nicht allein ist. Und Yoongi war nie allein. Er hat uns."

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schluchzte ein letztes Mal leise auf. „Geht", flüsterte sie. „Geht zu ihm."

Sie stürmten die Treppe nach oben.

All The Words You Never Said [VKOOK]Where stories live. Discover now