Kapitel 11

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Yoongi ging es noch immer gleich.

Er lag im Bett.

Er starrte nach vorne.

Er sprach nicht.

Jimin war derjenige gewesen, der sich neben ihn gesetzt hatte, als sie Yoongi am nächsten Tag ein weiteres Mal besuchten.

Yoongis Körper war zur Wand gedreht, seine Augen geschlossen.

Das Zimmer wurde aufgeräumt—vermutlich seine Mutter, die nicht länger mitansehen konnte, wie Yoongi in diesem Dreck lebte. Jin und Jungkook hatten das Zimmer gut durchgelüftet.

Jimin gab keinen Laut von sich, als er die Decke etwas nach oben zog, damit es Yoongi wärmer hatte. Er strich einmal über Yoongis Schulter, seine Finger zuckten leicht, als wollte er mehr tun, als Yoongi durch einen Stoff zu berühren, doch er traute sich nicht.

Jimin wusste, dass er Yoongi wie ein rohes Ei behandeln musste. Keine zu lauten Worte, kein Aufdrängen und auf keinen Fall ungewollte Berührungen.

„Jungkook, Jin", hatte Jimin nach ein paar Minuten gesagt. „Könnt ihr uns kurz allein lassen?"

Sie gingen.

Jimin blieb diesmal länger im Zimmer. Yoongis Mutter hatte Tee für alle gemacht und sie unterhielten sich leise über Yoongi, als Jimin aus dem Zimmer stürmte.

„Was?", fragte Jungkook sofort, sein Puls alarmierend schnell. „Was—"

„Yoongi möchte auch etwas Tee." Das Lächeln in Jimins Gesicht war ansteckend und schon bald grinste auch Jungkook über beide Ohren. Das Gefühl in seinem Inneren war unbeschreiblich, die Angst verschwand.

„Hat er das gesagt?", kam es atemlos aus Jin, der bloß ungläubig blinzelte.

Jimin nickte. „Er hat ‚Tee' gemurmelt." Sein Nicken wurde hektischer. „Er hört zu, wenn man mit ihm redet. Ich habe ihn anscheinend so zugepflastert mit Worten, dass er irgendwann selbst sprechen wollte."

Jimin sah so unglaublich glücklich aus.

Yoongis Mutter liefen still Tränen über die Wangen, ihre Haut rosig und ihre Augen groß. „Wirklich?", hauchte sie. „Er will Tee? Hier. Hier, nimm ihn!" Sie drückte Jimin eine Tasse Tee in die Hand, dann hielt sie inne. „Warte! Honig. Er liebt Honig..."

Und zum ersten Mal seit Tagen setzte sich Yoongi im Bett auf und trank Tee.

Er war noch immer in seinem Zimmer.

Er sprach so wenig wie nötig, nur vereinzelte Wörter oder ein Brummen.

Aber er saß aufrecht und trank Tee, während er zum ersten Mal die Leute um sich herum wahrnahm.

Es war letztendlich Jimin, der sich durch Yoongis Depressionen kämpfte und nicht aufgab, wenn Yoongi wieder einen Rückfall hatte.

Es war Jimin, der Yoongi endlich zum Sprechen und Essen brachte.

Und es war Jimin, der Yoongi nach acht Tagen endlich aus dem Zimmer kriegte.

Jungkook hatte noch nie so viele Tränen vergossen, wie an diesem Tag.

Jimin gab nie auf

Er gab nie auf.

Und es hatte sich gelohnt.

Manchmal kam Jungkook in die Klasse, warf einen Blick auf Taehyung und wusste, dass kein guter Tag war. Er wusste es einfach.

An schlechten Tagen sah Taehyung ihn nicht an, egal wie viel Jungkook redete und jammerte.

An schlechten Tagen machte sich Taehyung ganz klein, als wollte er sich nur für einen kurzen Moment in Luft auflösen, für immer von hier verschwinden, alles zurücklassen.

An schlechten Tagen war Taehyungs Körper so angespannt, so unglaublich steif, dass Jungkook Angst hatte, ihn unabsichtlich zu berühren und ihn zu verschrecken.

An schlechten Tagen saß Jungkook neben ihm und blickte ihn voller Geduld an und wartete, bis die dunklen Wolken wieder verschwanden und helle Sonnenstrahlen durch den dichten Nebel hindurchstrahlten.

Er wartete und wartete, hielt seine Hand immer ausgestreckt—immer in Taehyungs Nähe, falls er sie brauchte.

An guten Tagen sprach Taehyung mit ihm.

Also er sprach nicht wirklich, aber er schrieb.

‚Warum trägst du zwei unterschiedliche Socken?', hatte Taehyung auf einen Block gekritzelt, wo die Seiten bereits eingerissen waren. ‚Machst du das absichtlich?'

„Warum trägst du nicht zwei unterschiedliche Socken? Deine Socken sind immer schwarz", sagte Jungkook.

Taehyung blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen zu seinen Füßen hinunter. ‚Es sind normale Socken. Jeder trägt schwarze Socken.'

„Langweilig. Probier mal rot und grün, das wäre eine tolle Farbkombination für dich."

Taehyungs Gesicht hatte sich tatsächlich zu einer Grimasse verzogen und Jungkook musste sich zurückhalten, um ihn nicht auszulachen.

Du hast meine Frage nicht beantwortet.'

„Mir ist es egal, welche Socken ich trage. Ich bin in der Früh zu müde, um nach zwei gleichen zu suchen, also zieh ich einfach die an, die in der Nähe sind. Die Farben sind mir egal, hauptsache Socken." Dann hatte Jungkook breit gegrinst.

Taehyung hatte nichts mehr geschrieben, sondern ihn nur still angesehen—als hätte er die Antwort bereits geahnt.

In letzter Zeit fiel es Jungkook immer leichter, mit Taehyung zu reden, er stotterte nicht mehr so oft oder sagte komische Sachen—nein. Desto mehr Zeit er mit Taehyung verbrachte, desto wohler fühlte er sich. Es war so einfach, Taehyung beim Schreiben zuzusehen, ihm beim Rechnen zu beobachten, mit ihm zu reden, ihn neben sich zu haben...

Einen Tag später schrieb Taehyung: ‚Kommst du immer zu spät?'

Jungkook hatte peinlich berührt seinen Nacken gekratzt. Er war natürlich wieder fünf Minuten zu spät gekommen, die Lehrerin hatte gnädigerweise ein Auge zugedrückt und ihn nur mit Blicken ermordet anstatt seine Eltern angerufen.

„Bist du auch mal unpünktlich?", konterte Jungkook und schmunzelte, denn die Vorstellung war absurd. Taehyung war immer der Erste im Klassenraum.

‚Nein.'

Jungkook kicherte leise. „Ich wusste es. Du bist der Inbegriff von Perfekt. Immer so gefasst und ordentlich und pünktlich, nie eine Sekunde zu spät."

Taehyung zeigte auf die sechste Aufgabe. Seine Augen schienen zu sagen: ‚Rechnen.'

Jungkook gehorchte.

Es fiel ihm gar nicht auf, dass er Taehyung ein Kompliment gemacht hatte—ihm gesagt hatte, dass er perfekt war.

Ihm fiel auch nicht auf, wie rosig Taehyungs Wangen in diesem Moment geworden waren, zu sehr war er mit der Aufgabe beschäftigt.

Letztendlich war das Ergebnis falsch.

All The Words You Never Said [VKOOK]Where stories live. Discover now